Das siebte Kreuz
die eiskalte Wand gelehnt, um nicht einzuschlafen, mit Liebesworten. Sie mußte sich aufrichten, glaubte er, und in die Dunkelheit horchen.
Unzählige solcher Beteuerungen, unwirkliche weitläufige Abenteuer waren dem einzigen Mal gefolgt, das sie wirklich zusammen waren. Er hatte schon am folgenden Tag aus der Stadt gemußt. In seinen Ohren ihre Versicherungen, eintönig verzweifelt: »Ich will hier warten, bis du kommst. Mußt du fliehen, geh ich mit.«
Er konnte noch immer von seinem Platz aus den Mann am Eckpfeiler erkennen. Trotz der Dunkelheit war das Gesicht von weitem eher noch klarer. Auf den gekrümmten Lippen das letzte, das äußerste Angebot: Friede statt Todesangst, Gnade statt Gerechtigkeit.
Die kleine Wohnung in Niederrad, die Leni mit einer ältlichen Schwester teilte, die meistens auf Arbeit fort war, lag günstig für ein Versteck oder eine Flucht. Erwägungen dieser Art hatten ihn damals über die Schwelle des kleinen Zimmers verfolgt, obwohl er dabei sonst alles andre vergessen hatte, seine früheren Liebschaften und ganz lange Strecken seines verflossenen Lebens. Selbst als die Wände des Zimmers zusammenwuchsen wie undurchdringliche Hecken, war der Gedanke in seinem Kopf nicht erloschen, daß das hier im Notfall ein günstiger Unterschlupf war. Als man ihn damals in Westhofen holte, Besuch sei gekommen, da hatte er einen Augenblick gefürchtet, sie seien auf Leni verfallen. Er hatte die Frau, die man ihm damals vorführte, zuerst überhaupt nicht erkannt. Sie hätten ebensogut das erstbeste Bauernmädchen aus dem nächsten Dorf vor ihn hinstellen können, so fremd war ihm diese Elli, die sie herangeholt hatten.
Er mußte im Einschlafen gewesen sein. Er erwachte vor Schreck. Der Dom dröhnte. Ein heller Lichtschein flog quer durch den ganzen Dom – über seinen vorgestreckten Fuß weg. Sollte er fliehen? War noch Zeit? Wohin? Die Tore waren alle verschlossen bis auf eines, aus dem das Licht fiel. Er konnte vielleicht noch unbemerkt in eine der Seitenkapellen entkommen. Er stemmte sich auf seine kranke Hand, schrie auf und knickte zusammen. Er wagte jetzt nicht mehr, über das Lichtband wegzukriechen. Die Stimme des Küsters erschallte: »Ihr Schlampen, ihr Weibsbilder, jeden Tag was andres!« Die Worte dröhnten wie Urteilsverkündigungen des Jüngsten Gerichts. Eine alte Frau, die Mutter des Küsters, rief: »Da steht sie ja, deine Tasche.« Die Stimme der Küstersfrau setzte ein, von Mauern und Pfeilern zurückgeworfen, ein wahres Triumphgeheul: »Ich hab ja gewußt, daß ich sie beim Putzen zwischen die Bänke gestellt hab.« Die beiden Frauen zogen ab. Es klang, als ob Riesinnen schlurften. Das Tor wurde abermals abgeschlossen. Von allem blieb bloß noch Schall zurück, zerschlug sich und dröhnte noch einmal laut, als wollte er gar nicht versiegen, verhallte im entferntesten Teil und zitterte immer noch, als Georg schon zu zittern aufgehört hatte.
Er lehnte sich wieder an seine Wand. Die Lider waren ihm schwer. Jetzt war es vollkommen dunkel. So schwach war der Schimmer der einzelnen Lampe, die irgendwo in der Dunkelheit schwebte, daß er kein Gewölbe mehr erhellte, sondern einem nur zeigte, daß diese Finsternis schlechthin undurchdringlich war. Und Georg, der sich vorhin nichts anderes gewünscht hatte, atmete schwer und beklommen.
Du mußt jetzt dein Zeug ausziehen, riet ihm Wallau, denn später wirst du zu schwach sein. Er fügte sich, wie er sich Wallau immer gefügt hatte und staunte, weil seine Erschöpfung dabei abnahm. Wallau war zwei Monate nach ihm eingeliefert worden. »Du bist also Georg.« In diesen vier Worten, mit denen der ältere Mann ihn begrüßte, hatte Georg zum erstenmal seinen eignen vollen Wert verspürt. Ein Freigelassener hatte draußen von ihm erzählt. Während man ihn in Westhofen auf den Tod quälte, bildete sich in den Dörfern und Städten seiner Heimat das Urteil über Georg, das unzerstörbare Grabmal. Selbst jetzt dachte Georg, selbst hier in seiner eiskalten Mauer: Wenn ich Wallau in meinem Leben nur in Westhofen treffen könnte, ich würde alles noch einmal auf mich nehmen … Zum ersten–, vielleicht auch zum letztenmal war in sein junges Leben eine Freundschaft gekommen, wo es nicht darum ging, zu prahlen oder sich kleinzumachen, sich festzuklammern oder sich völlig hinzugeben, sondern nur zu zeigen, wer man war und dafür geliebt zu werden.
Die Dunkelheit war jetzt für seine Augen nicht mehr zu dicht. Der Kalk
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