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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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aus den Augen verloren, weil er selbst ein anderer geworden war, der kleine Röder aber derselbe geblieben. Jetzt dachte er an sein rundes, von Sommersprossen getupftes Gesicht, wie an eine liebe, für immer versperrte Landschaft … Er dachte auch an Franz. Er war gut zu mir, dachte Georg, er hat sich viel Mühe mit mir gemacht. Danke, Franz. Wir hatten uns dann verzankt. Warum nur? Was mag aus ihm geworden sein? Ein ruhiger Mensch, ordentlich, treu. Georg stockte der Atem. Quer durch das Seitenschiff fiel der Widerschein eines Glasfensters, das vielleicht von einer Lampe erhellt wurde aus einem der Häuser jenseits des Domplatzes oder von einer Wagenlaterne, ein ungeheurer, in allen Farben glühender Teppich, jäh in der Finsternis aufgerollt, Nacht für Nacht umsonst und für niemand über die Fliesen des leeren Doms geworfen, denn solche Gäste wie Georg gab es auch hier nur alle tausend Jahre.
     
    Jenes äußere Licht, mit dem man vielleicht ein krankes Kind beruhigt, einen Mann verabschiedet hatte, schüttete auch, solang es brannte, alle Bilder des Lebens aus. Ja, das müssen die beiden sein, dachte Georg, die aus dem Paradies verjagt wurden. Ja, das müssen die Köpfe der Kühe sein, die in die Krippe sehen, in der das Kind liegt, für das es sonst keinen Raum gab. Ja, das muß das Abendmahl sein, als er schon wußte, daß er verraten wurde, ja, das muß der Soldat sein, der mit dem Speer stieß, als er schon am Kreuz hing … Er, Georg, kannte längst nicht mehr alle Bilder. Viele hatte er nie gekannt, denn bei ihm daheim hat es das alles nicht mehr gegeben. Alles, was das Alleinsein aufhebt, kann einen trösten. Nicht nur was von andern gleichzeitig durchgelitten wird, kann einen trösten, sondern auch was von andern früher durchlitten wurde.
     
    Dann erlosch das äußere Licht. Es war noch finsterer als vorher. Georg dachte an seine Brüder, besonders an seinen kleinsten, den er selbst aufgezogen hatte, mit einer Zärtlichkeit, die eher einer Art Kätzchen als einem Kind galt. Er dachte an sein eigenes Kind, das er nur einmal kurz gesehen hatte. Dann dachte er an nichts Bestimmtes mehr. Gesichter kamen und gingen, bald verschwommen, bald überdeutlich. Manche brachten Stücke von Gassen mit, manche Schulhöfe und Sportplätze, manche den Fluß und manche Wolken und Wälder. Sie strömten von selbst auf ihn ein, daß er sich festhalten möge an dem, was ihm lieb gewesen war. Dann wurde alles gestaltloser, er konnte sich weder das Gesicht seiner Mutter noch sonst ein Gesicht zurückrufen. Seine Augen waren ihm wund, als hätte er all das wirklich betrachtet. Weit weg, wo er längst keinen Dom mehr vermutet hatte, leuchtete etwas Buntes auf. Draußen fuhr ein Auto vorbei. Traf sein Licht auf eines der Fenster, schlug der Widerschein auf den Boden. Dunkelheit folgte, wenn sein Licht auf ein Mauerstück traf.
     
    Georg horchte. Der Motor lief weiter. Er hörte das Gequietsche und Gelächter von Männern und Frauen, die in ein offenbar viel zu kleines Auto gezwängt wurden. Sie fuhren ab. Ganz rasch wurden die Fensterfarben zwischen die Pfeiler geworfen, zurückgezogen, immer weiter von Georg weg, Georg fiel der Kopf auf die Brust. Er schlief ein. Er kippte über auf seine kranke Hand. Er wachte vor Schmerz auf. Die tiefste Nacht war schon überschritten. Vor ihm auf dem Mauerstück begann der Kalk zu schimmern. In umgekehrter Folge als am Abend begann zuerst die Dunkelheit zu verdunsten, dann wurden Pfeiler und Wände von einem unaufhörlichen Rieseln ergriffen, als sei dieser Dom aus Sand gebaut. Vom schwächsten äußersten Frühlicht getroffen, entstanden die Bilder in den Fenstern, aber nicht leuchtend, sondern in dumpfen trüben Farben. Zugleich hörte das Rieseln auf, und alles fing an zu erstarren. Das ungeheure Gewölbe des Hauptschiffs erstarrte in dem Gesetz, nach dem es unter dem Kaisergeschlecht der Staufer erbaut worden war, aus der Vernunft einzelner Baumeister und der unerschöpflichen Kraft des Volkes. Das Gewölbe erstarrte, in das sich Georg verkrochen hatte, jenes Gewölbe, das schon zu den Zeiten der Staufer ehrwürdig gewesen war. Die Pfeiler erstarrten, und all die Fratzen und Tierköpfe in den Kapitellen der Pfeiler, die Bischöfe auf den Grabplatten vor den Pfeilern erstarrten von neuem in ihrer stolzen Todeswachheit, mitsamt den Königen, auf deren Krönung sie bis zum Übermaß stolz waren.
     
    Höchste Zeit für mich, dachte Georg. Er kroch hinaus. Er zog das Bändelchen mit den

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