Das siebte Kreuz
hätte. Aber für solche Leute wie Franz hat alles seine Tragweite. Er fuhr also zu seiner Mutter, die er seit Jahren nicht gesehen hatte. Sie war zu einer verheirateten Tochter nach Norddeutschland gezogen. Franz blieb dort oben hängen. Dieser Wechsel wurde zu einer glücklichen Ausweitung seines ganzen Lebens. Er vergaß sogar bisweilen den Anlaß, der ihn hergeführt hatte, und ging auf in dem neuen Ort, unter den neuen Genossen. Aufsein äußeres Leben hin war er einer der vielen Arbeitslosen, der von einer Stadt in die andere umgeschrieben wird. Auf das Ganze gesehen, war er einem Studenten vergleichbar, der die Hochschule wechselt. Er wäre vielleicht glücklich gewesen, wenn er sich hätte einreden können, daß er das ruhige, ordentliche Mädchen, mit dem er eine Zeitlang zusammenlebte, wirklich liebte. Nach dem Tod seiner Mutter kehrte er Ende 33 in die Nähe der Stadt zurück, in der er vorher gelebt hatte. Drei Gründe bestimmten diese Rückkehr: hier oben war er zu bekannt, der Boden war ihm heiß geworden. Unten brauchte man ihn, der die Menschen und Verhältnisse kannte, aber selbst schon vergessen war. Er hatte seinen Unterhalt bei dem Onkel Marnet. Alle Bekannten, die ihm irgendein Zufall über den Weg führte, dachten bei sich: Der hat früher auch anders geredet. Oder: Wieder einer, der sich gedreht hat. Eines Tages kam Franz zu dem einzigen Menschen in seiner nächsten Umgebung, der über ihn Bescheid wußte, dem Eisenbahnarbeiter Hermann. Hermann sagte ihm ruhig, noch ein Spur ruhiger als sonst, in der vorigen Nacht sei eine böse Verhaftung passiert. Erstens, weil der Verhaftete alle Verbindungen in der Hand hätte, zweitens, weil er erst ganz kurz und überhaupt nur durch die vorhergehenden Verhaftungen zu der Funktion gekommen sei. Hermann äußerte ruhig und mäßig, aber doch deutlich eine gewisse Möglichkeit, daß der Verhaftete auspacken könnte, sei es aus Schwäche, sei es aus Unerfahrenheit. Ohne ein Zuviel an unberechtigtem Mißtrauen sei es doch seine Pflicht, so zu handeln, wie es sein Zweifel vorschreibe: alle Verbindungen umzustellen, Menschen zu warnen, über die der verhaftete Mann Bescheid wußte. Er unterbrach sich plötzlich und fragte Franz schroff, ob er vielleicht den Mann nicht von früher kenne, da er ja hier gelebt habe, ein gewisser Georg.
Franz beherrschte sich, aber nicht gut genug, als daß nicht Hermann in seinem Gesicht die Bestürzung wahrgenommen hätte, da er diesen Namen nach ein paar Jahren wieder hörte. Franz versuchte in einigen Sätzen ein gerechtes Bild von Georg zu geben, was er wohl auch in der ruhigsten Stunde nicht gekonnt hätte. Hermann deutete sich die Verwirrtheit auf seine Art. Sie trafen über das Schachbrett weg alle nötigen Vorkehrungen.
Franz dachte: Unsere Vorkehrungen waren überflüssig. Wir hätten keine Verbindungen umzustellen brauchen, keine Genossen warnen. Ich hätte nicht mit Herzklopfen wegzugehen brauchen.
Denn ein paar Wochen später brachte ihn Hermann mit einem aus Westhofen entlassenen Schutzhäftling zusammen. Der erzählte von Georg: »An ihm haben die uns zeigen wollen, wie man einen baumstarken Kerl einszweidrei umlegt. Aber das Gegenteil passierte. Sie haben uns nur gezeigt, daß es nichts gibt, was seinesgleichen umlegt. Und sie quälen ihn immer. Denn jetzt wollen sie ihn tot haben. Was er immer für ein Gesicht gehabt hat, so ein Lächeln, das sie ganz rasend gemacht hat, und er hat solche Augen gehabt und solche vielen komischen spitzen Pünktchen darin. Aber jetzt ist sein schönes Gesicht ganz plattgeschlagen. Er ist überhaupt ganz eingeschrumpft.«
Franz stand auf. Er steckte den Kopf so weit wie möglich aus dem kleinen Fenster. Es war vollständig still. Zum erstenmal spürte Franz keinen Frieden in dieser Stille – nicht still war die Welt, sondern verstummt. Er zog unwillkürlich seine Hände aus dem Mondlicht zurück, das wie kein anderes Licht die Fähigkeit hat, sich allen Flächen anzuschmiegen und in die Ritzen einzudringen. Wie konnte ich ahnen, dachte er, daß er der ist, der er ist. Wie konnte man das im voraus wissen? Unsere Ehre und unser Ruhm und unsere Sicherheit waren auf einmal in seinen Händen. All das früher, alle seine Geschichten, alle seine Streiche, das war nur Unsinn, Nebensache. Man hat es aber unmöglich im voraus wissen können. Ich hätte vielleicht an seiner Stelle nicht standgehalten, obwohl ich doch der war, der ihn – Franz war plötzlich sehr müde. Er
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