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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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sein Arbeits weg weit herumführte, hatte auch bald die Sträflinge unter Bewachung auf Außenarbeit gesehen. Mancher hatte bei sich gedacht: Arme Teufel! Aber man hatte auch bald gedacht, was sie da eigentlich buddelten. Damals war es vorgekommen, daß auch in Liebach ein junger Schiffer offen auf das Lager fluchte. Den hatten sie dann gleich geholt. Er war auf einige Wochen eingesperrt worden, damit er sehen könnte, was drinnen los sei. Als er herauskam, hatte er sonderbar ausgesehen und auf keine Frage geantwortet. Er hatte Arbeit auf einem Schleppkahn gefunden und war später, wie seine Leute erzählten, ganz in Holland geblieben, eine Geschichte, über die das Dorf damals erstaunt war. Einmal waren zwei Dutzend Häftlinge durch Liebach gebracht worden, die waren schon vor der Einlieferung so zugerichtet, daß es den Menschen graute und eine Frau im Dorf offen weinte. Aber am Abend hatte der neue junge Bürgermeister des Dorfs die Frau, die seine Tante war, zu sich bestellt und ihr klargemacht, daß sie mit ihrer Flennerei nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Söhnen, die zugleich seine Vettern waren, und ein Vetter war zugleich auch sein Schwager, für ihr Leben lang Schaden zufügte. Überhaupt hatten die jüngeren Leute im Dorf, Burschen und Mädchen, ihren Eltern genau erklären können, warum das Lager da sei und für wen, junge Leute, die immer alles besser wissen wollen – nur daß die Jungen in früheren Zeiten das Gute besser wissen wollten, jetzt aber wußten sie das Böse besser. Da man dann doch nichts gegen das Lager tun konnte, waren allerlei Aufträge auf Gemüse und Gurken gekommen und allerlei nützlicher Verkehr, wie es die Ansammlung und Verpflegung vieler Menschen mit sich bringt.
     
    Doch als gestern früh die Sirenen heulten, als die Posten an allen Straßen aus der Erde wuchsen, als das Gerücht von der Flucht sich verbreitete, als dann mittags im nächsten Dorf ein richtiger Flüchtling gefangen wurde, da war auf einmal das Lager, an das man sich längst gewöhnt hatte, gleichsam neu aufgebaut worden, warum grad hier bei uns ? Neue Mauern waren errichtet worden, neue Stacheldrähte gezogen. Jener Trupp Häftlinge, der von der nächsten Bahnstation kürzlich durch die Dorfgasse getrieben wurde – warum, warum, warum? Jene Frau, die ihr Neffe, der Bürgermeister, vor fast drei Jahren verwarnt hatte, weinte gestern abend offen zum zweitenmal. War das auch nötig gewesen, dem Flüchtling, da man ihn ja schon hatte, mit dem Absatz auf die Finger zu treten, als er sich oben am Wagenrand festhielt? Alle Alwins waren von jeher roh gewesen, nur waren sie jetzt die Tonangeber. Wie der Mensch bleich gewesen war zwischen den frischen, gesunden Bauernburschen …
     
    Das hatte alles der junge Helwig mit angehört. Seitdem er ein wenig nachdachte, war das Lager immer dagewesen und mit dem Lager auch alle Erklärungen, warum es dasein mußte. Er kannte gar nichts anderes. Das Lager war ja aufgebaut worden, als er ein Knabe gewesen war. Nun wurde es gleichsam zum zweitenmal aufgebaut, als er fast ein Jüngling war.
     
    Lauter Lumpen und Narren waren da sicher nicht drin, sagten die Leute. Jener Schiffer, der damals drin war, der war ja auch kein Lump gewesen. Helwigs stille Mutter sagte: »Nein.« Der junge Helwig sah sie an. Es war ihm ein wenig bang ums Herz. Warum war heut abend frei? Er hatte Lust auf gewohnte Gesellschaft, auf Lärm, Kampfspiele und Märsche. Er war herangewachsen in einem wilden Getöse aus Trompeten, Fanfaren, Heilrufen und Marschtritten. Plötzlich an diesem Abend war alles abgebrochen für zwei Minuten, Musik und Trommeln, daß man die feinen dünnen Töne hörte, die sonst unhörbar waren. Warum hatte der alte Gärtner ihn heut mittag so angesehen? Es gab auch manche, die ihn lobten. Durch seine gute, genaue Beschreibung, sagten sie, sei der Flüchtling gefunden worden.
     
    Der kleine Helwig ging den Feldweg hinauf über eine Erdkrümmung. Er erblickte den älteren Alwin in den Rüben und rief ihn an. Alwin, schon rot und verschwitzt von der Arbeit, kam an den Weg. Was der heut schon hinter sich hat, dachte Helwig, als müßte er den Alwin verteidigen. Alwin beschrieb ihm alles, wie man eine Jagd beschreibt. Eben war er bloß ein Bauer gewesen, der früher als andere in seinen Acker geht. Jetzt im Beschreiben war er der Sturmführer Alwin, ein Mann, der ein Zillich werden konnte, wenn man ihm dazu Gelegenheit gab. War doch auch Zillich mal bloß ein Alwin gewesen,

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