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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Doch nur der nächste Patient trat ein, ein halbwüchsiges dunkles Mädchen, das an dem Tisch vorbeiging.
     
    Schließlich stand er vor dem Arzt. Er wurde nach Name, Adresse, Beruf gefragt. Er machte irgendwelche Angaben. Die Wände schwankten schon, er glitt in einen Abgrund aus Weiß und Glas und Nickel, einen vollkommen reinlichen Abgrund. Beim Abgleiten machte man ihn aufmerksam auf die Rassenzugehörigkeit des Arztes. Dieser Geruch, der ihn an das Nachspiel aller Verhöre gemahnte, wenn man gejodet und verbunden wurde. »Setzen Sie sich«, sagte der Arzt.
     
    Er hatte sich schon in der Tür gedacht, daß dieser Patient einen überaus ungünstigen Eindruck machte. Er kannte seine Vorzeichen: keine klaffenden Wunden, keine Geschwüre, der zarteste dünnste Hauch über und unter den Augen, bei diesem Mann war er schon ein schwärzlicher dichter Schatten. Was mochte ihm fehlen? Er war inzwischen an Patienten gewöhnt, die zu ihm liefen, ganz frühmorgens, damit es die Nachbarn nicht merkten, im allerletzten Moment, wie man früher zu einer Hexe lief. Er begann den Verbandfetzen abzuwickeln. Ein Unfall? Ja. Durch den starken Bann hindurch, in den ihn sofort jede Wunde schlug und jede Krankheit, weil er ganz und gar Arzt war, spürte er wieder eine Beklommenheit beim bloßen Anblick des Mannes, stärker noch als vorhin, was war denn das für ein Verband? Aus einem Jackenfutter. Er rollte ihn ganz langsam ab. Was war das überhaupt für ein Mensch? Alt? Jung? Seine Beklommenheit wuchs, schnürte ihm den Hals zu, als sei ihm der Tod noch nie so nah gewesen in den neunzehn Jahren, in denen er Kranke heilte.
     
    Er sah auf die Hand, die jetzt offen vor ihm lag. Sie war gewiß bös zugerichtet, so bös aber doch nicht, daß sie das Vorzeichen rechtfertigte auf der Stirn und den Augen des Mannes – wovon war der Mann so erschöpft? Er kam wegen der Hand. Er hatte sicher noch eine andere, ihm vielleicht selbst unbekannte Krankheit. Man mußte die Glassplitter jetzt herausnehmen. Der Mann mußte eine Spritze bekommen, er sackte ihm sonst ab. Der Mann sei Autoschlosser, hatte er angegeben. »In vierzehn Tagen«, sagte er, »sind Sie wieder arbeitsfähig.« Der Mann erwiderte nichts. Wird er die Spritze vertragen? Doch auch das Herz dieses fremden Mannes ist, wenngleich nicht ganz in Schuß, so schlecht nicht dran. Was fehlt dem Mann also? Warum folgte er eigentlich nicht seinem Drang, die Krankheit des Mannes herauszufinden?
     
    Warum war der Mann nicht sofort nach dem Unfall ins nächste Spital gelaufen? Der Dreck steckte doch schon mindestens über Nacht drin. Er wollte fragen, auch um den Mann, wenn er jetzt mit der Pinzette anrückte, von seiner Hand abzulenken. Der Blick des Mannes hielt ihn zurück. Er stockte. Er sah sich die Hand nochmals genau an, dann kurz das Gesicht des Mannes, seine Jacke, den ganzen Mann. Der Mann verschob ein wenig den Mund und sah ihn schräg, aber fest an.
     
    Der Arzt wandte sich langsam ab, wobei er selbst fühlte, wie er bis in die Lippen erbleichte. Und wie er sich selbst in dem Spiegel erblickte über dem Waschbecken, da lag es schon schwärzlich auf seinem eigenen Gesicht. Er schloß die Augen. Er seifte sich seine Hände und wusch sie mit unendlicher Langsamkeit und ließ das Wasser laufen. Ich habe Frau und Kinder. Warum kommt der Mensch zu mir? Bei jedem Schellen zittern müssen. Und was man mir Tag für Tag alles antut.
     
    Georg sah auf den weißen Rücken des Arztes. Er dachte: Doch Ihnen nicht allein.
     
    Der Arzt hielt die Hände unter das Wasser, daß es spritzte. Nicht mehr zum Aushalten, was man mir antut. Jetzt noch das dazu. Das gibt es doch gar nicht, daß man so leiden muß.
     
    Georg dachte mit zusammengezogenen Brauen, während das Wasser floß wie ein Quell: Aber doch Sie nicht allein.
     
    Da drehte der Arzt seinen Kran ab, er trocknete seine Hände mit einem frischen Handtuch, er roch das Chloroform zum erstenmal so, wie es sonst nur seine Patienten riechen – warum ist der Mann gerade zu mir gekommen? Gerade zu mir? Warum?
     
    Er drehte den Kran wieder an. Dann wusch er sich zum zweitenmal. Das geht dich überhaupt nichts an. Zu dir ist bloß eine Hand ins Sprechzimmer gekommen, eine kranke Hand. Ob die aus dem Ärmel eines Spitzbuben heraushängt oder unter dem Flügel eines Erzengels, das kann dir ganz egal sein. Er drehte den Kran wieder ab und trocknete seine Hände. Dann machte er seine Spritze zurecht. Als er Georgs Ärmel zurückschlug, merkte er,

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