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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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alle die Geschichten über den gefährlichen Dieb in einen Zustand von Wildheit und Fanglust geraten war, hatte sich um den Burschen geschlossen, ihn übel zugerichtet und zu dem nächsten Posten geschleift, der dann feststellte, daß der Mensch ein gewöhnlicher Aushilfskellner war, der zur Bahn wollte.
     
    Denn der Richtige saß schon oben auf dem Dach des Savoy hinter einem Schornstein. Dieser Richtige war Belloni, im gewöhnlichen Leben Anton Meier, aber wo war es hin, sein gewöhnliches Leben? Dieser Belloni, Artist, der Georg und seinen Genossen bis zuletzt fremd blieb, wenn er auch wahrscheinlich ein anständiger Junge war, Belloni selbst war es nicht entgangen, daß er dem Georg fremd geblieben war. Man hätte, um Vertrauen zu finden, länger zusammenbleiben müssen. Von seinem Platz aus konnte Belloni nicht die nächste Umgebung sehen, nicht die Gassen voll von Menschen, die die Jagd mit Begierde verfolgten und darauf brannten, mitzujagen. Über das niedrige Eisengitter des abfallenden Daches sah er nur den äußersten Rand der Ebene, im Westen über sich sah er den flimmerigen Himmel in einem stillen Blaßblau, ohne Vogel noch Wolke. Während drunten die Menge wartete, wartete er auf seinem Dach mit einer kühnen Ruhe, die ihm von Kind auf beigebracht war, einer Ruhe, mit der er in seinem Beruf die Menschen bezaubert hatte, ohne daß sie selbst ganz verstanden, was sie an diesen einfachen Kunststücken bezauberte. Belloni hatte die Vorstellung, daß er schon lange hier oben wartete, so lange, daß die Verfolger, falls sie auf seiner Fährte waren, ihn hätten aufstöbern müssen.
     
    Vor drei Stunden hatte man ihn in einer Wohnung verhaften wollen, die der Mutter eines früheren Freundes gehörte. Dieser Freund hatte einmal zu seiner Truppe gehört, bis er durch einen Berufsunfall ausschaltete. Aber die Polizei hatte unter anderem auch alle Mitglieder aller Truppen zusammengestellt, mit denen er je gearbeitet hatte. Diese Beziehungen zu bewachen, war nicht schwerer, als ein paar Häuserblocks zu zernieren. Belloni war durch das Fenster gesprungen, durch ein paar Gassen, war in die Hauptbahnhofgegend geflohen, wobei er zweimal um ein Haar gestellt wurde, war durch die Drehtür in das Hotel hineingegangen. In seinen neuen Kleidern, die er sich am Vortag beschafft hatte, hielt er sich trotz der Flucht so ruhig und gut, daß man ihn durch die Halle gehen ließ – Belloni hatte ein wenig Geld. Er hatte noch mal ein wenig Hoffnung geschöpft, daß er vielleicht mit der Bahn wegkönnte. Das war jetzt alles kaum eine halbe Stunde her. Er hatte jetzt keine Hoffnung mehr, aber auch auf diesem letzten Wegstück, dem Wegstück ohne Hoffnung, wollte er seine Freiheit verteidigen. Dazu mußte er jetzt auf das Dach des Nachbarhauses hinuntersteigen. Vorsichtig und ruhig ließ er sich an dem schrägen Dach ein paar Meter hinunter, bis zu einem kleinen vermauerten Schornstein, dicht am Gitter. Er hielt sich noch immer für unentdeckt. Wie er unter dem Gitter durchspähte, sah er die schwarze Menge, die den Häuserblock umsäumte. Er begriff, daß er verloren war. Schlimmer noch als verloren. Diese Menge drängte sich ja in den Gassen, um, wie er glaubte, einem Flüchtling wie ihm die Flucht unmöglich zu machen. Belloni konnte jetzt über die ganze Stadt weg sehen, über den Main und die Höchster Fabriken und die Taunusabhänge. In dem Muster von Straßen und Gassen der ganzen Stadt war die Umkreisung rund um den Häuserblock nur ein schwarzes Kringelchen. Der unendlich flimmerige Raum schien ihn zu einer Kunst einzuladen, über die er nicht verfügte. Sollte er einen Abstieg versuchen? Sollte er einfach warten? Sinnlos war beides, die Bewegung der Furcht ebenso sinnlos wie die des Muts. Aber er wäre nicht Belloni gewesen, wenn er nicht von den beiden Sinnlosigkeiten die letzte gewählt hätte. Er ließ die angezogenen Beine hinunter, bis er mit den Füßen an das Gitter kam.
     
    Belloni war schon entdeckt, seitdem er hinter dem zweiten Schornstein saß. »In die Füße«, sagte einer der beiden Burschen, die hinter einem Reklameschild auf dem Dachrand des Nachbarhauses steckten. Der andere zielte und schoß, ein leichtes Gefühl von Übelkeit oder auch nur von Aufregung überwindend, wie ihm der erste befohlen hatte. Dann kletterten beide geschickt und kühn auf das Hoteldach hinauf hinter Belloni her. Denn Belloni hatte sich trotz dem Schmerz nicht losgelassen, sondern festgeklammert. Zwischen den Schornsteinen

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