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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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den Hebel in einer Minute viermal hinunterdrückte, statt dreimal. Nämlich, weil sich die Plättchen, einmal eingelegt, nach jedem Druck von selbst drehten, anstatt daß sie jedesmal wieder in ihre neue Lage gedreht werden mußten. Einer sagte, die Lohnerhöhung am Ersten sei schließlich die Hauptsache, worauf ein dritter, älterer meinte, so schlagkaputt wie gestern abend sei er noch nie gewesen, worauf der zweite sagte, Montag abends sei man immer schlagkaputt.
     
    Solche Gespräche und ihre Ursache und der Ton, in dem die Gespräche geführt wurden, hätten sonst Franz auf lange Zeit Stoff zum Nachdenken gegeben. Jener Grundvorgang, der eine Menge Vorgänge auslöst, jeder in seiner Art wichtiger als der Grundvorgang, die Entschleierung der Menschen, das Durchblitzen ihres wahren Gesichts. Diesmal war Franz enttäuscht, ja verstört, daß die Nachricht, die ihn selbst Tag und Nacht beschäftigt, fast nicht einsickern wollte auf dem dürren Boden des gewöhnlichen Lebens.
     
    Wenn ich nur einfach zu Elli gehen könnte und sie fragen, dachte Franz. Ob sie wieder bei ihren Eltern wohnt? Nein, das kann man nicht riskieren. Höchstens, wenn sich das gäbe, daß ich sie irgendwo zufällig treffe.
     
    Er beschloß, sich vorsichtig in der Straße zu erkundigen, ob Elli wieder in ihre Familie zurückgezogen sei. Vielleicht war Elli gar nicht mehr in der Stadt. Also, das zog noch immer. Immer noch zog die Wunde, die man ihm damals beigebracht hatte, aus Dummheit oder aus Spielerei. Doch sie war richtig – fürs ganze Leben.
     
    Das ist ja alles Quatsch, dachte Franz, diese Elli ist sicher dick und fett geworden. Wenn ich sie nochmals gesehen hätte, wäre ich dem Georg vielleicht noch dankbar, daß er mich damals losgeeist hat. Außerdem geht sie mich überhaupt nichts an.
     
    Er beschloß, nach der Schicht nach Frankfurt zu radeln. Er wollte in einem Geschäft in der Hansagasse etwas kaufen, dabei konnte er sich nach der Familie Mettenheimer erkundigen … Pfeffernüßchen trat an ihn heran, griff ihm unter dem Ellbogen durch; Franz hob etwas die Unterarme, dadurch mißlang sein Stück, durch den Schreck mißlang auch das nächste, auch das dritte war noch unscharf.
     
    Franz wurde knallrot im Gesicht, er hätte sich auf den Buben stürzen mögen. Der schnitt ihm eine Grimasse – Pfeffernüßchens rundes Gesicht war im grellen Licht mehlig weiß, und um die frechen, funkelnden Augen standen blaue Ringe vor Müdigkeit.
     
    Franz sah und hörte plötzlich die ganze Abteilung so wie er sie vor fünf Wochen in der ersten Minute gesehen hatte, als er frisch hier eingetreten war. Er hörte das Surren der Riemen, das einem durchs Gehirn schnitt, quer durch alle Gedanken, aber ohne das feine Geräusch zu übertönen, mit dem sich das Metallband in den Schienen rieb. Er sah die Gesichter, die in dem gleichmäßigen Licht ganz fahl waren und nur alle drei Sekunden zuckten, wenn die Hebel durchgedrückt wurden. Nur dann zuckten sie, dachte Franz. Er vergaß, daß er sich eben selbst noch auf das Pfeffernüßchen hatte stürzen wollen, bloß weil ihm ein Stück verdorben war.
     
    Nicht gar weit von Franz, vielleicht eine halbe Stunde weit mit dem Rad, gab es in einer belebten Straße in der Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofs einen Menschenauflauf. Die Menschen reckten sich die Hälse aus. In einem Häuserkomplex, zu dem auch ein großes Hotel gehörte, wurde auf einen Fassadenkletterer Jagd gemacht. Niemand wunderte sich, daß zu dieser Jagd nicht nur ein großes Aufgebot Polizei, sondern auch SS eingesetzt wurde. Dieser Fassadenkletterer, hieß es, sei schon mehrmals entwischt, jetzt sei er frisch ertappt worden in einem Hotelzimmer, ein paar Ringe und Perlenschnüre hätte er mitgehen heißen. »Der reinste Film«, sagten die Leute. »Da fehlt nur die Greta Garbo.« Auf den Gesichtern lag ein erstauntes, ein wenig belustigtes Lächeln. Ein Mädchen schrie auf. Oben am Rand des Hoteldachs hatte sie etwas gesehen oder zu sehen geglaubt. Immer dichter wurde die Zuschauermenge und immer gespannter. Jeden Augenblick erwartete man ein seltsames Schauspiel, ein Mittelding zwischen einem Gespenst und einem Vogel. Jetzt kam auch noch die Feuerwehr mit ihren Leitern und Netzen. Gleichzeitig gab es ein Durcheinander auf der Rückseite des Savoy-Hotels. Ein junger Mann war aus einem Kellerpförtchen gesprungen und hatte sich mit dem Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnen wollen. Aber die Menge, die durch das lange Warten und

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