Das siebte Kreuz
daß der Mann kein Hemd unter der Jacke trug. Das geht mich nichts an, sagte er sich, mich geht die Hand an.
Georg schob seine verbundene Hand in die Jacke und sagte: »Vielen Dank.« Der Arzt hatte ihn nach Geld fragen wollen, aber der Mann hatte sich in einem Ton bedankt, als sei er umsonst behandelt worden. Wenn er auch im Hinausgehen taumelte, kam es dem Arzt jetzt doch vor, als sei die Hauptkrankheit nur in der Hand gewesen.
Als Georg die Treppe hinunterstieg, pflanzte sich vor ihm auf dem untersten Absatz ein Männchen in Hemdsärmeln auf: »Kommen Sie aus dem zweiten Stock?«
Georg log rasch, weil ihm keine Zeit blieb nachzudenken, was besser sei, Wahrheit oder Lüge: »Aus dem dritten.« –
»Ach so«, sagte das Männchen, das der Hausmeister war, »ich dachte schon von Löwenstein.«
Als Georg auf die Straße kam, erblickte er zwei Häuser weiter auf einer Türstufe den alten Bauer aus der Sprechstunde. Er stierte auf den Markt. Der Nebel war gestiegen. Das Herbstlicht lag auf den Schirmen, die pilzartig über den Buden standen. All das Obst und Gemüse lag da lecker und kunstlos wie einfache, einigermaßen ordentliche Beete. Deshalb sah es auch aus, als hätten die Bäuerinnen ganze Stücke ihrer eigenen Felder und Gärten mit auf den Markt gebracht. Wo war denn nur der Dom? Hinter den drei-, vierstöckigen Häusern, Marktschirmen und Pferden, Lastwagen und Weibern war der Dom vollständig verschwunden.
Erst als Georg seinen Kopf in den Nacken legte, sah er den obersten Turm, einen goldenen Schopf, an dem man die Stadt nach oben ziehen konnte. Wie er ein paar Schritte weiter hinausging, an dem Bauer vorbei, der ihm nachstierte, sah er hoch über den Dächern den heiligen Martin auf seinem Pferd, wie er den Mantel zerschnitt. Georg schob sich in das dichteste Gedränge. All die Äpfel und Trauben und Blumenkohle tanzten ihm vor den Augen. Zuerst hatte er eine solche Gier, daß er am liebsten sein Gesicht in den Markt hineingetunkt und zugebissen hätte. Dann hatte er nur noch Ekel. Er geriet jetzt in einen Zustand, der der gefährlichste für ihn war. Schwindlig vor Erschöpfung, zu schwach zum Nachdenken, taumelte er zwischen den Buden herum. Schließlich war er bei den Fischbuden angelangt. An eine Litfaßsäule gelehnt, sah er einem Händler zu, wie der einen riesigen Karpfen schuppte und ausnahm. Er wickelte ihn in ein Stück Zeitung und übergab ihn einem Fräulein. Dann fischte er mit seiner Schöpfkelle Backfischchen aus der Bütte, gab jedem geschwind einen kleinen Schnitt und schmiß eine Handvoll auf die Waage. Georg ekelte sich, aber er mußte genau mit zusehen.
Jener alte Bauer aus der Sprechstunde hatte von seiner Treppe aus Georg stumpf nachgesehen, bis er ihn aus den Augen verlor. Eine Weile betrachtete er noch die Menschen, die in der Herbstsonne durcheinanderliefen. Der ganze Markt war ihm vor Schmerz verdunkelt. Sein Oberkörper pendelte hin und her. Dafür hat mir der Lump zehn Mark abverlangt, dachte er, keinen Pfennig weniger als der Reisinger. Mit dem Reisinger konnte man keine Händel anfangen. Dem Jud wird er seinen Sohn aufs Dach schicken. Er zog sich an seinem Stock hoch. Er schleppte sich quer über den Platz in ein Automatenbüfett. Wie er durchs Fenster hinaussah, erblickte er wieder Georg an die Litfaßsäule gelehnt mit seiner frisch verbundenen Hand. Er sah ihn so lange an, bis Georg den Kopf nach dem Fenster drehte. Er fühlte ein Mißbehagen. Er konnte zwar von seinem Platz aus hinter dem Fenster nichts unterscheiden; er riß sich trotzdem los und ging an den Fischbuden vorbei gegen den Rhein zu.
Um diese Zeit hatte Franz schon Hunderte Blättchen ausgestanzt. Statt des verhafteten Holzklötzchen kam ein ganz junger Bub, um den Staub abzusaugen. Erst stutzte jeder, weil man an das Holzklötzchen gewöhnt war. Aber der Junge war so ein frecher lustiger Bengel, daß er auch gleich einen Spitznamen weghatte: Pfeffernüßchen. Jetzt hieß es statt Holzklötzchen, Holzklötzchen – Pfeffernüßchen, Pfeffernüßchen.
Gestern abend und heute morgen im Umkleideraum hatten sich alle Menschen weniger über die Verhaftung des Holzklötzchen aufgeregt als über das plötzliche, ihnen noch nicht ganz verständliche Ansteigen der Stückzahl der ausgestanzten Aluminiumplättchen. Dieser Vorgang war manchem erst im Laufe des Arbeitstages klargeworden. Einer hatte erklärt, an welchem Teil der Maschine man etwas ausgewechselt hatte, daß man
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