Das siebte Kreuz
Die eine drückte ihm mit Gewalt fünf Pfennige in die Hand, die andere schimpfte: »Du weißt doch, daß das verboten ist.« Die jüngere biß sich auf die Lippe. Seit fünfzig Jahren wurde sie gescholten.
Georg mußte doch lächeln. Wie war ihm das Leben lieb gewesen. Er hatte alles daran geliebt, die süßen Klümpchen auf dem Streuselkuchen und selbst die Spreu, die man im Krieg ins Brot buk. Die Städte und die Flüsse und das ganze Land und alle seine Menschen, die Elli, seine Frau, und die Lotte und die Leni und das Katherinchen und seine Mutter und seinen kleinen Bruder. Die Parolen, mit denen man Menschen aufweckt; die kleinen Lieder zur Klampfe; die Sätze, die ihm Franz vorlas, in denen große Gedanken ausgedrückt wurden und die sein Leben umwarfen; selbst das Geschwätz der alten Weiber. Wie gut war das Ganze gewesen, nur einzelne Teile waren schlecht. Noch jetzt war ihm alles lieb. Wie er sich aufrappelte und, an die Mauer gelehnt, verhungert und elend gegen den Markt sah, den man gerade unter den Laternen im Nebel aufbaute, da schoß es ihm heiß durchs Herz, als werde er doch auch zurückgeliebt, trotz allem, von allen und von allem, wenn auch vielleicht zum letztenmal, mit einer schmerzlichen, hilflosen Liebe. Er machte die paar Schritte zur Konditorei. Fünfzig Pfennig Restgeld mußte er behalten als eisernes Kapital. Er legte die Pfennige auf den Ladentisch. Die Frau schüttete ihm auf ein Stück Papier einen Teller voll Bröckelchen aus zerkrümelten Zwiebäcken und verbrannten Kuchenrändern. Ihr kurzer Blick galt seiner Jacke, die ihr zu gut schien für solche Mahlzeit.
Ihr Blick brachte Georg ganz zur Besinnung. Er stopfte sich all das Gekrümel draußen in den Mund. Ganz langsam kauend, schleppte er sich an den Rand des Platzes. Die Laternen, wenngleich sie noch schienen, waren schon unnütz geworden. Man sah schon die jenseitige Häuserreihe durch den Dunst des Herbstmorgens. Georg ging weiter und weiter durch ein Gewirr von Gassen, das sich wie Garn um den Markt spulte, auf den er auch schließlich wieder herauskam. Georg sah ein Schild: Dr. Herbert Löwenstein. Der war der, der mir helfen muß, dachte er. Er ging die Treppe hinauf.
Das erste gewöhnliche Treppenhaus seit wieviel Monaten. Er erschrak bei dem Knarren der Dielen, als sei er auf einen Einbruch aus. Es riecht auch hier nach Kaffee. Hinter den Wohnungstüren beginnt der gewöhnliche Tag mit Gähnen und Kinderwecken und dem Mahlen der Kaffeemühlen.
Einen Augenblick war es still, als er ins Sprechzimmer eintrat. Alle sahen ihn an. Zwei Gruppen von Patienten. Auf dem Sofa beim Fenster eine Frau und ein Kind und ein jüngerer Mann in einem Regenmantel – am Tisch ein alter Bauer und ein älterer städtischer Mann mit einem Knaben und jetzt noch Georg. Der Bauer fuhr fort: »Jetzt bin ich zum fünftenmal hier, geholfen hat er mir auch nicht, aber eine gewisse Erleichterung, eine gewisse Erleichterung. Daß es nur hält, bis unser Martin vom Militär daheim ist und heiratet.« Seiner eintönigen Stimme waren Schmerzen anzuhören, die ihm das Sprechen bereitete. Aber er nahm sie auf sich für den Genuß der Mitteilung. Er fügte hinzu: »Und Sie?« – »Ich bin ja nicht wegen mir hier«, sagte der andere trocken, »sondern wegen dem Bub da. Der ist von meiner einzigen Schwester das einzige Kind. Der Vater von dem Kind hat ihr verboten, daß sie zum Löwenstein geht. Da hab ich ihr den Bub mal hergebracht!« Der Alte sagte (er hielt sich den Bauch, in dem wohl sein Schmerz saß, mit den Händen zusammen): »Als ob’s keinen andern Arzt gäbe.« Der andre sagte gleichmütig: »Sie sind ja auch hier.« – »Ich? Ich war aber auch schon bei allen anderen, beim Doktor Schmidt, beim Doktor Wagenseil, beim Doktor Reisinger, beim Doktor Hartlaub.« Er wandte sich plötzlich an Georg: »Warum sind Sie denn da?« – Wegen meiner Hand.« – »Das ist doch kein Arzt für Hände, der ist doch für innen.« – »Ich hab auch noch innen was abbekommen.« – »Einen Autounfall?« Die Sprechzimmertür wurde aufgemacht. Der Alte stützte sich, ganz geblendet vor Schmerz, auf den Tisch und auf Georgs Schulter. Nicht aus Furcht – die unbezähmbare Bangigkeit eines Kindes erfüllte Georg, die er einmal als Junge in den Sprechzimmern durchgemacht hatte, als er so klein gewesen war wie der gelbliche Junge da. Wie damals zupfte er unaufhörlich an den Fransen der Sessellehne.
Es schellte an der Flurtür. Georg fuhr zusammen.
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