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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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verursachten. »Sieh sie dir ganz genau an«, sagte Fischer, »warum ist das deine Jacke nicht? Siehst du einen Unterschied?« Fritz begann mit niedergeschlagenen Augen zuerst stockend, dann umständlich zu erklären, warum das seine Jacke nicht sei. Seine hätte auch einen Reißverschluß in der Westentasche gehabt, die hätte einen Knopf. Hier hätte er ein Löchelchen gehabt von einem Bleistift, wo das Futter heil sei. Diese Tasche hätte ein Nahtband mit Firma als Aufhänger, seine hätte, weil ihm der Aufhänger immer durchriß, zwei Aufhänger von seiner Mutter an die Ärmel bekommen. Und je mehr er ins Reden kam, desto mehr fiel ihm ein an Unterschieden, denn je besser er sie beschrieb, desto wohler wurde ihm. Schließlich wurde er grob unterbrochen und weggeschickt. Als er in seiner Schule ankam, erklärte er: »Sie war es gar nicht.« Alle wunderten sich und lachten.
     
    Georg war inzwischen längst ausgestiegen, eingeschlossen von seinen Buben, an dem Posten vorbeigegangen. Nachdem er sich von allen verabschiedet hatte, ging er weiter auf der Autostraße, die von Eltville nach Wiesbaden führt. Overkamp pfiff vor sich hin sein feinstes Luftausblasen, immer weiter, bis Fischer am Tisch gegenüber die Hände zitterten. Dieser Bengel hätte mit Freuden nach seiner Jacke gegriffen, nach der er so lamentiert hatte. Noch ein Glück, daß er ehrlich war und die Jacke abwies. Da diese Jacke nicht die gestohlene war, war auch der Jackenaustauscher gar nicht der Mann, den man suchte. Hatte man auch den Arzt Löwenstein nutzlos festgenommen. Auch wenn es stimmte, daß der Mann, den er gestern verbunden hatte, der Jackenaustauscher war.
     
    Overkamp hätte noch stundenlang weitergepfiffen, wenn nicht ein Ruck durch das ganze Lager gegangen wäre. Jemand kam gestürzt: »Man bringt den Wallau.« Später erzählte einer von diesem Morgen: »Auf uns Gefangene machte die Einlieferung Wallaus ungefähr einen solchen Eindruck wie der Sturz Barcelonas oder der Einzug Francos in Madrid oder ein ähnliches Ereignis, aus dem hervorzugehen scheint, daß der Feind alle Macht der Erde für sich hat. Die Flucht der sieben Leute hatte für alle Gefangenen die furchtbarsten Folgen. Trotzdem ertrugen sie den Entzug von Nahrung und Schlafdecken, die verschärfte Zwangsarbeit, die stundenlangen Verhöre unter Schlägen und Drohungen mit Gelassenheit, ja zuweilen mit Spott. Unser Gefühl, das wir nicht verbergen konnten, reizte die Peiniger noch mehr. So stark empfanden die meisten von uns diese Flüchtlinge als einen Teil von uns selbst, daß es uns war, als seien sie von uns ausgeschickt. Obgleich wir nichts von dem Plan gewußt hatten, kam es uns vor, etwas Seltenes sei uns gelungen. Vielen von uns war der Feind allmächtig vorgekommen. Während die Starken sich ruhig einmal irren können, ohne etwas zu verlieren, weil selbst die mächtigsten Menschen noch Menschen sind – ja sogar ihre Irrtümer machen sie nur noch menschlicher -, darf sich, wer sich als Allmacht aufspielt, niemals irren, weil es entweder Allmacht ist oder gar nichts. Wenn ein noch so winziger Streich gelang gegen die Allmacht des Feindes, dann war schon alles gelungen. Dieses Gefühl schlug in Schrecken um, ja bald in Verzweiflung, als man einen nach dem andern einbrachte, verhältnismäßig rasch, und, wie es uns vorkam, mit einer höhnischen Mühelosigkeit. In den zwei ersten Tagen und Nächten hatten wir uns gefragt, ob sie denn auch den Wallau erwischten. Wir kannten ihn kaum. Er war nur nach seiner Einlieferung ein paar Stunden bei uns gewesen, dann war er gleich wieder zum Verhör gebracht worden. Wir hatten ihn zwei- oder dreimal nach solchen Verhören gesehen, ein wenig taumelnd, eine Hand gegen den Bauch gepreßt, mit der anderen Hand machte er zu uns hin eine winzige Bewegung, als wollte er ausdrücken, daß das alles nichts Endgültiges zu bedeuten hätte und daß wir uns trösten sollten. Wie dieser Wallau jetzt auch eingefangen war und zurückgebracht wurde, da weinten manche wie Kinder. Wir wären jetzt alle verloren, dachten wir: Man würde den Wallau jetzt auch ermorden, wie man alle ermordet hatte. Gleich im ersten Monat der Hitlerherrschaft hatte man Hunderte unserer Führer ermordet, in allen Teilen des Landes, jeden Monat wurden welche ermordet. Teils wurden sie öffentlich hingerichtet, teils in den Lagern zu Ende gequält. Die ganze Generation hatte man ausgerottet. Das dachten wir an diesem furchtbaren Morgen, und wir sprachen es auch aus,

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