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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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wir sprachen es aus zum erstenmal, daß wir, in solchem Maß ausgerottet, in solchem Maß abrasiert, ohne Nachwuchs vergehen müßten. Was beinahe nie in der Geschichte geschehen war, aber schon einmal in unserem Volk, das Furchtbarste, was einem Volk überhaupt geschehen kann, das sollte jetzt uns geschehen: ein Niemandsland sollte gelegt werden zwischen die Generationen, durch das die alten Erfahrungen nicht mehr dringen konnten. Wenn man kämpft und fällt und ein anderer nimmt die Fahne und kämpft und fällt auch, und der nächste nimmt sie und muß dann auch fallen, das ist ein natürlicher Ablauf, denn geschenkt wird uns gar nichts. Wenn aber niemand die Fahne mehr abnehmen will, weil er ihre Bedeutung gar nicht kennt? Da dauerten uns diese Burschen, die Spalier standen zu Wallaus Empfang und ihn bespuckten und anstierten. Da riß man das Beste aus, was im Lande wuchs, weil man die Kinder gelehrt hatte, das sei Unkraut. All diese Burschen und Mädel da draußen, wenn sie einmal die Hitlerjugend durchlaufen hatten und den Arbeitsdienst und das Heer, glichen den Kindern der Sage, die von Tieren aufgezogen werden, bis sie die eigene Mutter zerreißen.«
     
     
     

3
     
    An diesem Morgen war Mettenheimer so pünktlich wie je auf seine Arbeitsstelle gegangen. In seinem Herzen beschloß er, sich, komme was wolle, um nichts anderes zu kümmern als um die Arbeit, die ihm oblag. Weder das gestrige Verhör noch seine Tochter Elli, noch der steifhütige Schatten, der sich an seine Fersen geheftet hatte, auch heute wieder, sollten ihn im geringsten behindern, sein gutes Handwerk auszuüben. So bedroht wie er sich plötzlich fühlte, von allen Seiten belauert, in steter Gefahr, von seinen Tapeten weggerissen zu werden, erschien ihm sein Handwerk in einem neuen Licht, beinahe erhaben, in einer unordentlichen Welt ihm gegeben von dem, der den Menschen Berufe gibt.
     
    Da er vor lauter Beflissenheit, pünktlich zu kommen nach den gestrigen Versäumnissen, heute morgen noch nichts gehört und noch nichts gelesen hatte, merkte er auch die Blicke nicht, die die Weißbinder bei seiner Ankunft unter sich tauschten. In seiner schweigsamen Eile, die er nur durch kurz geknurrte Anordnungen unterbrach, halfen ihm heute alle so willig wie nie, ohne daß er das überhaupt wahrnahm. Freilich sahen die Leute in seinem verbissenen Eifer nicht im geringsten die Wirkung erhabener Gedanken über die Bedeutung ihres Handwerks, sondern die natürliche Würde eines alten Mannes, den ein peinliches Unglück in der Familie betroffen hat. Sein bester Arbeiter, Schulz, der ihm gerade einen Handgriff machte, sagte plötzlich nach einem Seitenblick auf das strenge kleine Gesicht des Alten: »Das kann überall vorkommen, Mettenheimer.« – »Was?« sagte Mettenheimer. In einem etwas gespreizten, aber aufrichtigen Ton, wie ihn jeder bei Kondolenzgelegenheiten annimmt, weil man die eigenen Worte für sein Gefühl noch nicht zur Hand hat, nur die herkömmlichen, setzte derselbe Schulz hinzu: »Das kann heute in jeder deutschen Familie vorkommen.« – »Was kann in jeder deutschen Familie vorkommen?« fragte Mettenheimer. Das war dem Schulz zuviel, es ärgerte ihn. Auf dem Bau war im Augenblick ein gutes Dutzend Leute mit der Innenausstattung beschäftigt. Schulz gehörte zu der Hälfte, die die langjährige Stammarbeiterschaft der Firma ausmachte. In einer solchen Gemeinschaft bleiben die Lebensverhältnisse auf die Dauer kein Geheimnis. Alle wußten, daß Mettenheimer ein paar hübsche Töchter hatte, daß die hübscheste gegen den Willen des Alten in eine mißlungene Ehe geraten war. Damals war schlecht tapezieren gewesen mit dem alten Mettenheimer. Daß der geschiedene Schwiegersohn im KZ gelandet war, wußte man auch. Und beim Radio und bei der Zeitung hatte man sich heute früh an manches erinnert, was die strenge Miene des Alten nur zu bestätigen schien. Vor ihm, Schulz, hätte sich Mettenheimer nicht zu verstellen brauchen. Darauf kam er nicht, daß Mettenheimer der war, der von allem am wenigsten wußte.
     
    Als die Mittagszeit kam, gingen ein paar herunter zur Hausmeisterin, um sich ihr Essen aufzuwärmen. Sie luden Mettenheimer ein, übertrieben drängend. Mettenheimer gab auf den Ton nicht acht, er nahm an, da er sein Brot in der Eile vergessen hatte und in keine Wirtschaft gehen wollte. Hier herauf kam der Schatten nicht. Hier war er sicher in der Treppenhausnische, die sich die vertraute Gesellschaft junger und alter Weißbinder zum

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