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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Frauen erschraken so heftig, daß sie sich wild anstierten. Beide erwarteten Rufe, Lärm, das Einbrechen der Tür. Aber es schellte nur zum zweitenmal, fein und ordentlich. Frau Merkler raffte sich auf. Gleich darauf rief sie erleichtert über den Flur: »Nur Ihr Vater, Frau Elli.«
     
    Mettenheimer hatte Elli niemals in dieser Wohnung besucht, die ihm, obwohl seine eigene keineswegs prächtig war oder weiträumig, doch auf jeden Fall ein unangemessener Aufenthalt für seine Tochter dünkte. Da er inzwischen unbestimmte Gerüchte von Ellis Verhaftung gehört hatte, wurde er bleich vor Freude, weil sie gesund vor ihm stand. Er nahm ihre Hand zwischen seine beiden Hände, drückte und streichelte sie, was er auch noch nie getan hatte. »Was sollen wir nur tun«, sagte er, »was sollen wir nur tun«? – »Gar nichts«, sagte die Tochter, »wir können nichts tun.« – »Wenn er aber kommt?« – »Wer?« – »Dieser Mensch, dein früherer Mann.« – »Er wird sicher zu uns nicht kommen«, sagte Elli traurig und ruhig, »auf uns kommt er nicht.« Ihre Freude beim Eintritt des Vaters, weil sie doch auf der Welt nicht völlig allein war, verflüchtigte sich, da der Vater noch ratloser war als sie selbst. »Doch«, sagte Mettenheimer, »in der Not kommt ein Mensch auf alles.« Elli schüttelte den Kopf. »Wenn er nun aber doch kommt, Elli, wenn er zu mir in meine Wohnung heraufkommt, weil du zuletzt bei mir gewohnt hast. Diese Wohnung ist doch bewacht und deine auch. Wenn ich nun nachher am Wohnzimmerfenster stehe und seh ihn kommen, Elli, was dann? Soll ich ihn einfach kommen lassen, in die Falle hineingehen? Soll ich ihm ein Zeichen machen?« Elli sah ihren Vater an, der ihr ganz von Sinnen schien. »Nein, ich weiß es«, sagte sie traurig, »er wird nie mehr kommen.«
     
    Der Tapezierer schwieg; in seinem Gesicht drückte sich offen und unverwischt die ganze Not seines Gewissens aus. Elli betrachtete ihn verwundert und zärtlich. »Gott im Himmel« – der Tapezierer sagte diese drei Worte in dem Tonfall eines aufrichtigen Gebets, »wenn er nur nicht kommt! Wenn er kommt, sind wir so und so verloren.« – »Warum so und so verloren, Vater?« – »Daß du das nicht begreifst. Stell dir doch vor, er kommt, ich mach ihm ein Zeichen, eine Warnung. Was passiert dann mit mir, mit uns? – Und stell dir vor, er kommt. Ich seh ihn kommen, aber ich mach ihm kein Zeichen. Er ist ja gar nicht mein Sohn, ein Fremder, schlimmer als ein Fremder. Also, ich mach ihm kein Zeichen. Er wird gepackt. Kann man das?«
     
    Elli sagte: »Sei nur ruhig, lieber Vater, er kommt ja gar nicht.«
     
    »Wenn er nun aber zu dir kommt, Elli. Wenn er auf irgendeine Weise deine jetzige Wohnung erfahren hat?«
     
    Elli wollte erwidern, was ihr erst bei der Frage klar wurde, daß sie ihm dann wohl helfen müsse, komme, was da wolle, aber um ihren Vater zu schonen, sagte sie bloß wieder: »Er kommt nicht.«
     
    Der Tapezierer brütete vor sich hin. Möge das Unglück, möge der Mensch an seiner Tür vorbeigehen. Möge ihm rasch seine Flucht gelingen. Möge er eher – vorher gefangen werden? Nein, das wünschte er selbst seinem Feind nicht. Aber warum mußte gerade er vor solche Fragen gestellt werden, denen er nicht gewachsen war? Eigentlich war das alles durch die Verliebtheit eines dummen Mädchens gekommen. Er stand auf und sagte in verändertem Ton: »Dieser Kerl, der gestern abend in deinem Zimmer war, wer war denn das schon wieder?« Auf dem Flur kehrte er nochmals um: »Da ist ein Brief für dich.«
     
    Dieser Brief war kurz zuvor in seine Küchentür geschoben worden. – Elli besah die Aufschrift: Für Elli. Sie machte ihn auf, als der Vater weg war. Nur ein Kinobillett in einem unbeschriebenen Bogen. Vielleicht von Else. Diese Freundin verschaffte ihr manchmal billige Plätze. Dieses grüne Billettchen kam vom Himmel heruntergeflattert. Vielleicht wäre sie sonst bis in die Nacht auf dem Bettrand sitzen geblieben, die Hände im Schoß. Ist das gestattet? dachte sie, wenn man so tief wie ich im Unglück steckt, darf man dann in ein Kino gehen? Das gehört sich vielleicht nicht. Unsinn, gerade dafür sind Kinos da. Jetzt erst recht.
     
    »Hier sind noch zwei kalte Schnitzel von gestern abend«, sagte die Wirtin. Jetzt erst recht, sagte sich Elli, diese Schnitzel sind zäh wie Juchten, aber nicht vergiftet. Die Frau Merkler betrachtete ganz verblüfft die junge zarte, traurige Frau, die da still am Küchentisch saß und nacheinander

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