Das siebte Tor
Überlebenden klammerten sich an das Treibgut, bis sie an fremden Ufern
angespült wurden. Dort fanden sie eine neue Heimat – auf Zeit, denn die Welle
strebt nach Ausgleich.
Langsam, unerbittlich wuchs die Welle erneut in
die Höhe, neigte sich in die entgegengesetzte Richtung. Ein ungeheures Gebirge
aus Wasser, und auch dieses drohte mit verheerender Gewalt über die Welt
hinwegzuspülen.
Xar.
Haplo kämpfte gegen das schwere Gewicht, das ihm
die Brust zusammendrückte. Es war schwer, gehen zu müssen. Besonders jetzt, da
er endlich begann zu verstehen…
Anfang… Xar sprach zu ihm, sagte etwas über das
Siebte Tor. Ein Kinderreim. Aus dem Ende ein neuer Beginn.
Ein gedämpftes Winseln hinter der Steinbank
übertönte Xars Stimme. Haplo fand gerade genug Kraft, um die Hand zu bewegen.
Eine feuchte Zunge schleckte über seine Finger. Er lächelte und kraulte dem
Hund die seidigen Ohren.
»Unsere letzte gemeinsame Reise, mein Junge«,
sagte er. »Aber keine Würste…«
Der Schmerz kehrte zurück. Schlimmer, viel
schlimmer als zuvor.
Eine Hand umfaßte die seine. Eine knorrige, alte
Hand, stark und ermutigend.
»Hab keine Angst, mein Sohn«, sagte Xar. »Hab
keine Angst. Sträube dich nicht. Laß los…«
Der Schmerz war unbeschreiblich.
»Laß los…«
Haplo schloß die Augen, atmete ein letztes Mal
aus und sank in die Tiefe.
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Kapitel 9
Nekropolis,
im Labyrinth
Xar hielt Haplos Handgelenk umfaßt, selbst dann
noch, als er keinen Puls mehr fühlte. Reglos saß er da und starrte in die
Dunkelheit. Während die Minuten verrannen und der Körper neben ihm erkaltete,
hatte Xar eine Vision.
Er sah sich selbst, einen alten Mann, allein mit
einem Toten.
Einen alten Mann in einem Verlies, tief unter
der Oberfläche einer Welt, die zum Friedhof geworden war. Einen alten Mann mit
gesenktem Kopf und gebeugten Schultern, der seinen Verlust betrauerte. Haplo.
Seinem Herzen teurer als jeder Sohn von seinem
eigenen Fleisch und Blut. Aber nicht nur ihn hatte er verloren.
Der Fürst schloß die Augen und sah statt der
trostlosen Dunkelheit der Katakomben eine andere Finsternis, die unheilvolle
Finsternis, die sich über das Letzte Tor gesenkt hatte. Er sah die
hoffnungsvoll zu ihm emporgewandten Gesichter seines Volkes. Er sah, wie Hoffnung
sich zu Unglauben wandelte, dann zu Furcht oder auch Zorn, bevor sein Schiff
ihn durch das Tor trug.
Es war einmal anders gewesen, die vielen Male,
wenn er aus dem Labyrinth wiederkehrte, erschöpft, verwundet, aber siegreich.
Seine Gefolgsleute, ernst und verschlossen, sagten nichts, aber ihr Schweigen
war beredt. In ihren Augen las er Respekt, Liebe, Bewunderung…
Xar blickte in Haplos Augen – weit offen und
glasig und sah darin nur Leere. Der Fürst ließ Haplos Hand fallen und schaute
sich verbittert in der kahlen Zelle um.
»Was ist geschehen?« fragte er sich. »Wie ist es
möglich, daß ich so weit vom Wege abgekommen bin?«
Und er glaubte, in der Dunkelheit ein hämisches,
zischelndes Lachen zu hören.
»Wer ist da?« rief er und sprang auf.
Keine Antwort, das Geräusch war verstummt.
Vorbei der Augenblick des Selbstzweifels, das zischelnde
Lachen hatte die Leere in ihm mit Zorn angefüllt.
»Mein Volk ist von mir enttäuscht.« Xar wandte
sich bedächtig dem Toten auf der Steinbank zu. »Doch wenn ich im Triumph
zurückkehre und ihnen eine geeinte Welt bringe, um sie sich Untertan zu machen
– dann werden sie mich verehren wie nie zuvor.
Das Siebte Tor«, flüsterte Xar, während er
zärtlich, liebevoll dem Toten die Hände faltete und ihm die Augen schloß, »das
Siebte Tor, mein Sohn. Als Lebender wolltest du mich dorthin führen. Als Toter
wirst du es tun. Und ich werde dir dankbar sein, mein Sohn. Tu dies für mich,
und du wirst Frieden finden.«
Er legte die Hand auf die klaffende Wunde in
Haplos Brust, wo die Herzrune gewesen war. Um sein Werk zu vollenden, brauchte
er nichts weiter zu tun, als die Sigel neu zu verknüpfen und dann das Ritual
der Wiedererweckung an dem leblosen Körper zu vollziehen.
Xar berührte die Herzrune mit den Fingerspitzen,
die Formel des Heilens auf den Lippen. Doch er zögerte, sie auszusprechen;
seine Hand, die in der größten Gefahr ruhig geblieben war, zitterte.
Wieder ein Geräusch vor der Zelle. Kein Zischen
diesmal, sondern schlurfende Schritte. Xar fuhr herum und richtete drohend den
Blick in die Dunkelheit. »Ich weiß, daß du da bist. Ich kann dich hören.
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