Das siebte Tor
stolperten sie zufällig über das Siebte
Tor. Dort fanden sie Seelenfrieden, Selbsterkenntnis, Erfüllung – durch das
Wirken einer höheren Macht, einer Macht jenseits ihrer Vorstellung und ihres
Verständnisses. Deshalb hatten sie diesen Raum zu einem heiligen Ort erklärt –
Sanktuarium.
In diesem Raum waren sie gestorben.
In diesem Raum hatte Kleitus den Tod gefunden.
Die Erinnerung an dieses schreckliche Ereignis
machte Alfred schaudern, und rasch zog er die Hand zurück, die die Runen an der
Wand nachgezeichnet hatte. Mit entsetzlicher Deutlichkeit sah er die Gerippe
auf dem Boden liegen. Massenmord. Massenselbstmord.
Wer aber diesen Ort entheiligt durch Gewalt,
wider den soll sie sich kehren und ihn vernichten.
So stand es in Augenhöhe entlang der Wände geschrieben.
Als er seinerzeit die Warnung las, hatte Alfred nach dem Grund gefragt, nun
glaubte er ihn zu kennen. Furcht – zu guter Letzt lief es immer darauf hinaus.
Wer konnte genau wissen, was in Samah vorgegangen war, doch er hatte Angst gehabt 9 , selbst in diesem Raum, den der Rat
durch Magie zu einer Festung umgewandelt hatte. Doch schließlich war er seinen
Schöpfern zum Verhängnis geworden.
Eine kalte Hand berührte Alfreds. Er schrak auf
und merkte, daß Jonathon neben ihm stand.
»Hab keine Angst vor dem, was dich dort
erwartet.«
»… dort erwartet…«, wisperte der Schemen.
»Die Toten sind zur Ruhe gebettet, nichts kündet
mehr von ihrem tragischen Ende. Ich habe selbst dafür Sorge getragen.«
»… Sorge getragen…«
»Du bist hier gewesen?« fragte Alfred erstaunt.
»Viele Male.« Der Widerschein der Seele verlieh
dem starren Antlitz des Lazars einen Anschein von Leben und erwärmte die toten
Augen. »Ich komme, ich gehe. Dieser Raum ist – sofern es das für mich geben
kann – mein Zuhause gewesen. Hier finde ich Linderung von den Qualen meines
Daseins. Hier finde ich Geduld, auszuharren, auf das Ende zu warten.«
»Das Ende?« Der ominöse Klang der Worte verursachte
Alfred Unbehagen.
Der Lazar antwortet nicht, und sein Schemen
umtanzte ihn ruhelos.
Alfred holte tief und zitternd Atem. Das letzte
bißchen Zuversicht verflüchtigte sich.
»Was geschieht, wenn wir versagen?«
Diese Worte Haplos im Ohr, legte Alfred die
Handflächen gegen die Felsmauer und begann, die Runen zu singen. Unter seinen
Fingerspitzen löste das Gestein sich auf. Leuchtend blaue Sigel umrahmten eine
Türöffnung, die nicht in Dunkelheit führte wie beim letzten Mal, als sie das
Sanktuarium betreten hatten, sondern ins Licht.
Das Siebte Tor war ein Septagon, überwölbt von
einer kuppelförmigen Decke. Eine in der Mitte der Kuppel schwebende Kugel
verbreitete eine weiche, weiße Helligkeit. Wie Jonathon versprochen hatte,
waren die sterblichen Überreste der in diesem Raum zu Tode gekommen Sartan
verschwunden. Doch immer noch warnte die Inschrift: Wer aber diesen Ort
entheiligt durch Gewalt, wider den soll sie sich kehren und ihn vernichten.
Alfred trat über die Schwelle. Wieder fühlte er
sich von der liebenden Wärme empfangen, an die er sich erinnerte. Wohlbehagen
und Ruhe erfüllten seinen Geist. Er trat an den rechteckigen Tisch aus makellosem,
weißem Holz heran – Holz aus der alten, vergangenen Welt – und betrachtete ihn
mit Ehrfurcht und Trauer.
Auch Jonathon näherte sich dem Tisch. Hätte
Alfred darauf geachtet, wäre ihm die Veränderung aufgefallen, die mit dem Lazar
vorging, als er den Raum betrat. Der Schemen blieb außerhalb des Körpers und
versuchte nicht mehr, sich loszureißen. Die Nebelgestalt verdichtete sich zu
einem opalisierenden Abbild des Herzogs, wie er gewesen war, als Alfred ihn
kennengelernt hatte: jugendlich, schwungvoll, lebensprühend. Der Leichnam
schien der Schatten der Seele zu sein.
Doch Alfred hatte dafür keinen Blick. Er starrte
auf die Runen, die in den Tisch geschnitzt waren, starrte darauf wie hypnotisiert,
unfähig, den Blick abzuwenden. Er beugte sich tiefer, tiefer.
Hugh Mordhand verharrte in der Türöffnung; nun,
da der Moment gekommen war, scheute er vielleicht doch vor dem Unwiderruflichen
zurück.
Der Hund versetzte Hugh einen freundlichen
Schubs und wedelte aufmunternd mit dem Schwanz.
Hughs versteinerte Züge entspannten sich, er
lächelte. »Nun, wenn du meinst«, sagte er zu dem Vierbeiner und trat ein.
Während er langsam durch den Raum ging, sah er sich aufmerksam nach allen
Seiten um. Am Tisch blieb er stehen und
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