Das Siegel der Finsternis - Algarad 1
keine Zeit, den Anblick wirken zu lassen.
»Los, weiter!«, drängten ihre Bewacher und bohrten ihnen die stumpfen Enden der Speere in den Rücken. Die Wächter trieben sie eine geschwungene Steintreppe hinab, die hinunter in die Ebene führte. Unten angekommen, folgten sie dem Lauf eines Feldwegs. Zu beiden Seiten wuchs das Gras hüfthoch und duftete würzig. Man konnte schnell vergessen, dass man sich tief unter dem Meer befand. Auf den Feldern wurde die Ernte eingeholt wie an einem gewöhnlichen Tag auf Gondun im Spätsommer oder Frühherbst. Tenan vermutete, dass hier unten ähnliche Jahreszeiten wie in Algarad galten, aber er konnte sich nicht erklären, wie diese zustande kamen. Die Erbauer Atalas mussten ein gewaltiges Wissen besessen haben, das ihnen erlaubte, die Kräfte der Natur nachzuahmen.
Sie durchquerten ein Wäldchen und gelangten zu einem seltsamen Bauwerk, das wie ein überdimensionaler Bienenkorb aussah. Fisk-Hai-Wächter standen neben dem kreisrunden Eingang und kreuzten die Speere.
»Losung!«, sagte einer von ihnen barsch.
Der Führer des Trupps machte ein spezielles Zeichen, das nur ein Wesen mit sechs Fingern ausführen konnte, und die Wächter traten zur Seite. Wie von Geisterhand öffneten sich die schweren Türen. Sie traten in eine Halle, die im Gegensatz zu der freundlichen Helligkeit draußen düster und stickig wirkte. Rußige Fackeln qualmten an den unverputzten Lehmwänden. Ihr Flackern ließ die Schatten der Hereinkommenden unruhig tanzen.
Der Anführer des Wachtrupps salutierte vor einem wuchtigen Holztisch, der am Ende des Raumes auf einem Podest stand. Ein feister Fisk-Hai saß dahinter. Er unterschied sich im Aussehen nicht sonderlich von den anderen Bewohnern Atalas, bis auf eine Krone, die schief auf seinem kahlen Schädel saß und ihn als den König der Fisk-Hai auswies. Er war weitaus dicker als die anderen seines Volkes.
Der König der Fisk-Hai musterte die Neuankömmlinge hinter schweren Augenlidern, während er bedächtig an einer Keule gebratenen Fleisches nagte. Gemächlich griff er dann nach einem Krummhorn und leerte es in einem Zug. Wein sickerte aus beiden Mundwinkeln und tropfte auf sein speckiges Wams, das schon bessere Tage gesehen hatte. Dann wischte er sich mit dem Arm über den Bartelmund und rülpste.
»Wen schleppst du diesmal an, Dex?«, fragte er gedehnt.
Der Anführer des Wachtrupps trat einen Schritt vor. »Eglamar, mein König, dies sind Eindringlinge, die vom Strudel von Arnom Gath erfasst worden sind. Wir fanden sie in der südwestlichenFlutpassage. Unserer Einschätzung nach fuhren sie mit Absicht in den Strudel hinein. Sie machten nicht den Eindruck, dass sie ihm entkommen wollten.«
Eglamar wiegte schwerfällig den Kopf, während er einen nach dem anderen genau anschaute. Als sein Blick auf Eilenna fiel, runzelte er die Stirn. »Dich kenne ich doch! Warst du nicht vor ein paar Jahren schon einmal in meinem Reich?«
»Sehr wohl, mein König«, bestätigte Dex eilfertig, bevor Eilenna antworten konnte. »Es ist das Mädchen, das damals durch die verschütteten Gänge entkommen konnte, bevor wir ihr den Trank des Vergessens einflößen konnten.«
»Eine Ungeheuerlichkeit! Das ist bisher noch nie einem Sterblichen gelungen. Die Stärke der Fisk-Hai ist ihre Verborgenheit! Niemand in der Außenwelt darf von unserem Stützpunkt wissen!«
Obwohl der Vorfall von Eilennas Flucht schon einige Zeit zurücklag, steigerte sich Eglamar in seinen Zorn hinein. Er hievte sich aus seinem Sessel, stapfte auf Eilenna zu und baute sich vor ihr auf, indem er die Arme in die Hüften stemmte. Sein Gesicht glühte vor Zorn. Eilenna war größer als er, und er musste zu ihr aufsehen. »Wem hast du nach deiner Flucht von dem geheimen Zugang nach Atala erzählt? Wer weiß von unserem Reich?«
Eilenna verbeugte sich vor ihm. »Eure Majestät, Ihr ehrt uns mit Eurem Willkommen«, sagte sie. »Wir entbieten Euch unseren Gruß und erbitten Eure Gastfreundschaft.«
Eglamar schaute sie verdutzt an. Er hatte eine andere Reaktion erwartet. »Lenk nicht ab! Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte er schroff, wenngleich etwas weniger aufgebracht.
Eilenna schenkte ihm ein Lächeln. »Edler Eglamar, nichtsliegt mir ferner, als Euer Reich zu verraten und in Gefahr zu bringen. Es ist ein letztes Bollwerk des Friedens. Seid versichert, ich habe keinem Menschen davon erzählt, seitdem ich Atala über die verborgenen Gänge verlassen habe.«
Eglamars Miene verfinsterte
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