Das Siegel der Finsternis - Algarad 1
aus schlichtem Granitstein befand sich in der Mitte des Raums. Darauf lag ein dicker, uralter Foliant. Den abgegriffenen Ledereinband zierte ein goldenes Zeichen, das spiralförmig geschwungen nach innen verlief. Als das Licht der Kerzenflamme darauffiel, schienen sich die feinen Linien der Spirale zur Mitte hin zu bewegen, als suchten sie den Brennpunkt ihrer Existenz, der gleichzeitig Anfang und Ende bedeuten konnte. Das Buch des Meisters! Tenan war sich sicher: Er hatte es gefunden. Sein Blick wurde in die Mitte des magischen Musters gezogen. Je länger er daraufstarrte, desto deutlicher konnte er eine zunehmende Ruhe und Gelassenheit in sich wahrnehmen. Er fühlte sich auf eine besondere Art eins mit sich. Das musste das Gefühl sein, von dem Osyn früher gesprochen hatte, wenn er ihn in den Grundlagen der Magie und der rechten Geisteshaltung unterrichtet hatte. Er wurde zum Mittelpunkt seines Seins, alle Gedanken und Empfindungen lösten sich im Urgrund des eigenen Wesens in Bedeutungslosigkeit auf. Es war ganz selbstverständlich, so zu fühlen. An diesem feinen, zarten Punkt mochte wahre Erkenntnis möglich sein.
Er hätte wohl für immer in diesem Zustand bleiben können, doch irgendetwas in ihm regte sich, zurückzukehren. TenansGeist trennte sich widerstrebend von dieser Erfahrung und kam zurück in die Dunkelheit des Labyrinths. Er streckte seine Hand aus und berührte das alte Buch, konnte den kalten Umschlag unter seinen Fingern spüren. Es verwunderte ihn nicht, dass er die Seiten mit seinen unsichtbaren Händen öffnen konnte. Das Buch klappte mit lautem Knall auf. Staub wirbelte im schwachen Strahl der imaginierten Kerzenflamme. Die Cestril-Schrift war auf den vergilbten Seiten nur schwer zu erkennen, doch er konnte sehen, dass es sich um das Inhaltsverzeichnis des Buches handelte.
Tenan las: »Vom Wesen des dhorin – seine Bedeutung – was es ist – was es nicht ist – was es sein wird.«
Offenbar war das eine alte Schrift der Dan-Meister aus längst vergangenen Tagen. Gebannt blätterte er weiter und entzifferte die nächsten Sätze:
»Und Mehalog sprach zu seinen Schülern: Mag jedermann sich fragen, wohin die Reise des Lebens ihn führen mag, ein Weiser wird antworten: Frage nicht, du Törichter! Was mag es dir nützen, zu wissen, was dereinst geschehen wird? Glücklich der, der nichts verlangt zu wissen! Der Strom der Zeit fließt in ständiger Bewegung. Wie kann das, was man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nennt, das wahre Wesen eingrenzen? Mitnichten! Nur der traurige Schleier der Illusion lässt uns vermuten, dass das möglich sei. Ist nicht vielmehr die Frage wichtig, wer oder was du bist, statt der Frage nach dem Wohin? Wer kann behaupten, sein innerstes Wesen, sein dhorin , zu kennen? Und wahrhaft glücklich auch der, der keine Antwort darauf weiß. Weder dies noch jenes kann gesagt werden, und so verhält es sich mit dem dhorin . Es ist nichts, was verstanden ...«
Hier war der Text von einem bräunlichen Fleck bedeckt, der getrocknetes Blut sein mochte. Etwas weiter unten konnte Tenan fortfahren.
»Der Atem ... auch ohne Denken. Er ist dir nahe wie das dhorin ...« Wieder störten die braunen Spritzer, und Tenan musste einige Absätze überspringen. Nun behandelte der Text anscheinend ein anderes Thema.
»All die Weisen suchten seit jeher nach der Quelle des Atems, nach dem Einen Ton. Sie fanden ihn im vollkommenen Ton der Heiligen Flöte, welche seitdem die Krieger von Dan bei sich tragen. Darum sage ich euch, meine Schüler: Sucht nach dem Einen Ton eures wahren Wesens. Lasst den Ton der Heiligen Flöte euer dhorin wider spiegeln. Und wenn ihr meint, ihn gefunden zu haben, seid versichert: Er ist es nicht! Erst wenn der Geist ruhig wird und keine Fragen mehr stellt, kann jenes Schimmern zu euch durchdringen, das im Zeitlosen wohnt und sich doch ständig verändert. Doch so lange müsst ihr suchen und Fragen stellen.«
Stirnrunzelnd sah Tenan von dem Buch auf. Was für ein seltsamer Text! Die Lehren des dhorin schienen schwer zu fassen zu sein. Teile davon klangen wie manches, das Osyn ihm beizubringen versucht hatte. Sein Meister hatte ihn immer wieder dazu angehalten, in sich zu gehen, den Geist zu beruhigen und eins mit sich zu werden, aber Tenan hatte nie recht verstanden, wozu das gut sein sollte. Er hatte es als Quälerei empfunden und ständig gegen die Unruhe seiner Gedanken ankämpfen müssen. Schließlich hatte er aufgegeben und die meisten der Übungen
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