Das Siegel der Finsternis - Algarad 1
Seine Arme und Beine waren steif und unbeweglich, als lasteten die Felsen des unterseeischen Labyrinths darauf.
»Ich weiß, wer ihr seid. Was wollt ihr?«, flüsterte er mühsam. Zu seiner Verwunderung konnte er sprechen – oder glaubte es zumindest. Er hatte keinen Muskel seines Gesichts bewegt.
»Willkommen im Reich der Grauen Flüsterer«, wisperten die Stimmen wieder. »Wir haben schon lange auf dich gewartet. Endlich bist du da.«
Es gelang ihm, seine Augen einen schmalen Spalt zu öffnen. Im Licht der Kristalle und des kleinen Feuers sah er seine Begleiter. Sie lagen eingehüllt in ihre Decken und Umhänge und schliefen. Dex saß aufrecht, rauchte und hielt Wache. Er schien die Flüsterer nicht zu bemerken, konnte sie weder sehen noch hören.
»Was wollt ihr von mir?«, hörte Tenan sich in seinem Innerensagen. Schlagartig wurde ihm klar, dass es seine Gedanken waren, die sich zu Worten formten, welche die unheimlichen Wesen verstehen konnten.
»Kämpfe nicht gegen die Starre«, rieten die Stimmen. »Sie ist notwendig, damit du uns wahrnehmen kannst. Wir werden weder dir noch den anderen Schaden zufügen.«
»Wir erwarten dein Kommen schon seit vielen Jahrhunderten«, sagte ein Wesen, das Tenan von den anderen durch seine höhere Stimmlage unterscheiden konnte. Offenbar war es weiblich. »Das Tor der Zeit öffnet sich langsam und gibt den Weg frei für unsere Erlösung.«
»Eure Erlösung?«, fragte Tenan verwirrt. »Wovon?«
»Du bringst ihn mit deinen Andeutungen nur durcheinander, Deimara«, flüsterte eine männliche Stimme, deren Gegenwart Tenan deutlich in seinem Geist wahrnahm. Das Wesen sprach mit einer natürlichen Autorität und mochte ein Anführer der Geisterwesen sein.
»Du hast recht, Henom«, antwortete die weibliche Stimme.
Eine kleine Weile vernahm Tenan nur das leise Flüstern der Wesen, die sich unterhielten, ohne ihn daran teilhaben zu lassen. Er hatte den Eindruck, dass es Hunderte von Stimmen waren, die sich auf dieser Ebene des Geistes versammelt hatten.
»Wir dürfen dir noch nicht viel verraten«, erklang schließlich wieder Deimaras Stimme. »Zu viel liegt im Ungewissen, zu viel ist noch unentfaltet. Aber dein dhorin ist stark.«
»Ihr sprecht in Rätseln, genau wie mein Meister Osyn«, sagte Tenan bitter und fühlte sich genauso töricht und unwissend wie damals in dessen Gegenwart.
»Du wirst das Muster des Geheimnisses um unsere Existenz mit der Zeit erkennen«, antwortete das Wesen namens Henom. »Wenn wir dir jetzt schon zu viel erzählen, würdedich das womöglich vom rechten Weg ablenken. Nur so viel sei gesagt: Vor vielen hundert Jahren, vor der Großen Flut, lebten wir mit unseren Brüdern und Schwestern in Eintracht und Frieden in der Ebene, die man die Weißen Sphären nennt. Unsere Aufgabe war es, für das Gleichgewicht der Kräfte zu sorgen. Doch es kam die Zeit, da viele von uns unzufrieden wurden mit der ihnen zugeteilten Aufgabe und nach Höherem strebten. Sie schlossen sich einem dunklen Führer an, einem Magier der niederen Sphären, den man als den Bash-Arak kannte. Er verführte sie mit falschen Versprechungen, und fortan lebten sie unter seiner Herrschaft. Es waren viele, die ihm folgten, aber nicht alle von uns gingen den Weg des Verderbens.« Henom schwieg. Es bereitete ihm anscheinend Mühe, die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen.
Also berichtete Deimara weiter. »Als der Bash-Arak und seine Anhänger sahen, dass nicht alle seinem Ruf folgten, verfluchte er die Verräter, wie er die Standhaften nannte. Alle, die du hier um dich versammelt siehst, sind Opfer seiner Schwarzen Kunst. Er bannte uns in die Hallen und Räume des Vergessens, und hier fristen wir seither ein Leben in Dunkelheit und Kälte. Doch wir wollen nichts Böses.«
»Die Fisk-Hai fürchten euch«, widersprach Tenan.
Henoms Stimme wurde sanft. »Angst entsteht nur bei jenen, die Grund dazu haben. Es sind lediglich die Seelen von Wesen, die uns nicht wirklich verstehen, die Angst empfinden.«
»Ich fürchte euch nicht. Aber ich mag die Art und Weise nicht, wie ihr mit mir in Kontakt tretet. Verschwindet aus meinem Geist!«
Etwas, das ein hundertfaches Kichern sein mochte, erklang in seinem Inneren.
»Siehst du, wie viel Zorn und Ärger noch in ihm ist, Deimara?«, fragte Henom zweifelnd. »Glaubst du wirklich, dass er es ist?«
»Es wird sich weisen«, flüsterte sie. »Aber wir müssen ihm einen Hinweis geben, der ihn weiterbringt.«
»Ja, einen Hinweis«, meinte Henom.
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