Das Siegel der Finsternis - Algarad 1
strichen sich das feuchte Haar aus dem Gesicht.
Sie befanden sich am Strand eines niedrigen, steinigen Küstenstreifens, an dem die Brandung wogte. Überall lagen Geröll und abgebrochene Äste. Verkrüppelte Bäume, gezeichnet von Wind und Wetter, duckten sich eng an graue Felsen, die dem Meer trotzten. Sie türmten sich weiter entfernt zu den stattlichen Formationen einer Steilküste auf, wie sie typisch für diemeisten Inseln Algarads waren. Seemöwen zogen am dunstigen Himmel kreischend ihre Kreise.
Tenan hielt sich den schmerzenden Arm. Es war kaum Blut zu sehen, aber ein seltsamer schwarzer Fleck breitete sich aus. Er biss die Zähne zusammen und verdrängte das Stechen, das zunehmend jede andere Empfindung überdeckte.
Die Gefährten krochen schaudernd zum Rand des Lochs in der Erde und spähten hinunter. Sie konnten nur das Glitzern des dunklen Wassers sehen, das sich langsam beruhigte. Die See hatte alle Geheimnisse darunter begraben. Niemand würde je wieder die alten Wege benutzen können, die einst das Reich der Menschen mit Atala verbunden hatten.
Dex wirkte benommen, als habe ihm jemand einen schweren Schlag verpasst. »Das ist eine Katastrophe«, murmelte er. Erst jetzt schien er zu realisieren, in welcher Gefahr Atala schwebte. Seine selbstbewusste, ruppige Art war gänzlich verschwunden »Das ganze Labyrinth wird überflutet! Und dahinter liegt meine Heimat ...!«
»Du wirst einen Weg zurück finden«, versuchte Eilenna ihn zu trösten.
Er schaute sie mit leeren Augen an. »Es geht nicht um den Weg zurück«, antwortete er. »Über den Strudel von Arnom Gath könnte ich jederzeit heimkehren – wenn Atala dann noch besteht. Aber das Meer flutet durch die Gänge des Labyrinths und wird auf die Schutztore treffen. Sie werden dieser Gewalt nicht standhalten können.« Er sank wieder kraftlos auf die Knie und starrte in den Schacht. »Mein Volk wird zugrunde gehen.«
Chast legte ihm die Hand auf die Schulter. »Noch ist nichts endgültig, mein Freund«, sagte er mit sanfter Stimme. »Die Schutztore Atalas sind stark, das hast du selbst uns immer wiederversichert. Sie haben Tausende von Jahren ausgehalten und werden auch diesmal nicht versagen.«
Tenan empfand Mitgefühl mit dem Fisk-Hai. Ihm selbst war es nicht anders ergangen: Seine Heimat war zerstört und vom Feind besetzt, die ihm liebsten Menschen vermutlich tot oder in Gefangenschaft. Aber auch die Überflutung des Labyrinths war für ihn schicksalhaft. Wie sollte er je das Buch des Meisters aus den Tiefen bergen? Es war unwiederbringlich verloren, und Henom, Deimara und die anderen Grauen Flüsterer waren für ewig in die überfluteten Gänge gebannt.
Mit bedrückten Herzen kehrten sie dem Meer den Rücken und wandten sich nordwärts. Die Gefährten waren erleichtert, endlich wieder unter freiem Himmel zu wandern. Nur Dex schien dem Marsch auf der Erdoberfläche nichts abgewinnen zu können; er war tief versunken in Gedanken, stapfte sichtbar ziellos voran, als schien ihm der Weg gleichgültig zu sein.
Irgendwann erbot sich Chast, die Führung zu übernehmen. »Ich war schon einige Male hier in der Gegend und kenne den direkten Weg zum nächsten Stadttor.«
Der Fisk-Hai brummte nur, dass er nun ja ohnehin überflüssig sei, und ließ dem Kesselflicker bereitwillig den Vortritt.
Sie hatten, so gut es ging, die Kleider ausgewrungen, doch es wehte eine kühle Abendbrise, und sie waren froh, sich durch das Laufen ein wenig wärmen zu können. Tenan drängte darauf, noch vor Einbruch der Dunkelheit die Mauern der Stadt zu erreichen.
Immer wieder bebte die Erde. Ungeheure Kräfte schienen an ihren Grundfesten zu rütteln.
Sie stolperten hastig über das unebene Gelände, kletterten einen steilen Abhang hinauf, der von Ginsterbüschen und Sanddorn bewachsen war, und erreichten schließlich eine Anhöhe,die Ausblick ins Hinterland gewährte. Vor ihnen, erbaut auf einem riesigen schwarzen Basaltfelsen, etwa eine Meile entfernt, erhob sich majestätisch die Hauptstadt des Reichs von Algarad. Tenan hatte viel über die beeindruckende Bauweise Meledins gehört, und nichts davon war übertrieben.
Sechs massive Ringmauern umspannten die einzelnen Stadtbereiche, die sich in Schichten übereinander bis zur Kuppe des Felsens auftürmten. Am höchsten Punkt, der genau in der Mitte lag, reckte sich ein weißer Turm in den Himmel, stolz und erhaben wie ein schlankes Schwert. Hunderte von erleuchteten Fenstern waren in der Außenmauer des Turms zu sehen
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