Das Siegel der Finsternis - Algarad 1
was er sieht: Das Wesen trinkt in gierigen Zügen die schwarz lodernden Flammen. Doch anstatt zu verlöschen, brennen sie nur stärker und gewinnen neue Kraft. Sie züngeln sich um Kopf und Leib des Ungeheuers. Für einen kurzen Augenblick vermag Tenan die lidlosen Augen zu sehen, aus denen absolute Dunkelheit flutet. Er kann einen Aufschrei des Entsetzens nicht unterdrücken. In der Stille hallt er bis zum Grund des Felstrichters.
Die Kreatur hört auf zu trinken und wendet den Kopf, sucht die Felsen ab. Tenan duckt sich hinter einen großen Stein, rollt sich zusammen, wagt kaum zu atmen, lauscht angestrengt. Es ist gespenstisch still in der Schlucht. Er späht vorsichtig über die Kante. Eiskalte Schauer durchrieseln ihn, als die Augen des Wesens an ihm vorüberschweifen, jedoch ohne ihn zu entdecken. Dann, nach einer Ewigkeit, wie es scheint, setzt die Kreatur den riesigen Kelch an seinen Platz, und die Schatten stürzen sich dar auf, um von dem brennenden Labsal zu zehren.
Tenan hat genug gesehen. Nur weg von hier! Er springt von Stein zu Stein den Hang hinab, kleine Lawinen von Geröll auslösend, die neben ihm in die Tiefe klackern. Es ist ihm gleichgültig, ob er Geräusche verursacht, durch die er sich verraten könnte. Unten angekommen, beginnt er zu rennen. Doch wohin? Sein Geist ist gefangen in dieser Sphäre, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Er läuft zum Ausgangspunkt zurück, dorthin, wo die beiden Portale stehen. Atemlos bleibt er zwischen ihnen stehen. Die Luft schmeckt nach Staub und verkleistert seine Lungen, macht das Atmen unmöglich. Er wirft einen Blick hinter sich. Tatsächlich, dort bewegt sich eine Gestalt in Richtung der Tore auf ihn zu! Man hat ihn entdeckt und verfolgt ihn!
Gehetzt wirbelt Tenan herum, sucht ein Versteck. Er läuft auf die Pfeiler des schwarzen Tores zu, das ihm am nächsten steht. Es knirscht und quietscht, als sich dessen Flügel plötzlich öffnen, und Tenan hält entsetzt inne. Er ist dem Tor zu nahe gekommen. Nun wird die dunkle Macht dahinter auch ihn in ihren Bann schlagen und in das grauenhafte Schattenreich ziehen! Tenan steht schon jetzt wie gelähmt vor Entsetzen.
»Entscheide, durch welches Tor du gehen willst«, hallt eine Stimme nahe seinem Ohr; sie scheint gleichzeitig aus der Unendlichkeit zu kommen. »Noch bist du frei und kannst wählen. Achest Todesfürst hat noch keinen Einfluss auf dich. Doch beeile dich und lass dich von deiner eigenen Angst nicht lähmen!«
Tatsächlich wird sich Tenan bewusst, dass er sich bewegen kann. Seine eigene Angst hat ihn in Bann geschlagen! Doch die Torflügel öffnen sich immer weiter, und er spürt bereits den Sog hinein ins Nichts. Er wirbelt herum. Vor ihm steht die Gestalt, die ihm bis hierher gefolgt ist. Unter dem grauen Kapuzenmantel kann er die Züge des anderen nicht erkennen. Hinter ihm ragt der zerstörte Durchgang des anderen Tores auf, der in lichtere Gefilde zu führen scheint. Plötzlich weiß Tenan, was er tun muss, und ein strahlendes Licht flammt auf, heller als tausend Sonnen ...
Tenan öffnete die Augen. Es dauerte einen Moment, bis die verschwommenen Farben vor seinem Gesicht Konturen annahmen.Er atmete tief ein, um sich zu vergewissern, dass die Luft tatsächlich vorhanden war und er sich nicht immer noch in dem seltsamen Reich zwischen Leben und Tod befand. Sein Kopf fühlte sich angenehm leicht an, wie auch sein übriger Körper wohl und entspannt war. Über sich sah er schwere Balken aus Eichenholz, die eine weiß getünchte Decke stützten. Ein frischer, würziger Geruch lag in dem kleinen schlichten Raum, durch den Sonnenstrahlen funkelten. Er wollte den Oberkörper anheben und sich abstützen, doch er wurde von wilden Schmerzen in seinem linken Arm zurückgeworfen. Keuchend sank er wieder auf die Kissen.
»Sachte, mein Sohn, du hast einiges hinter dir und solltest dich schonen.«
Tenan zuckte zusammen. Das war dieselbe Stimme, die er in seinem Traum gehört hatte! An einem Türbogen, der zu einem Nebenraum führte, lehnte ein großgewachsener, stattlicher Mann mittleren Alters. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte ihn. Sein langes, rabenschwarzes Haar fiel in Kaskaden geflochtener Strähnen über seinen Rücken. Die Farbe seiner Augen erinnerte Tenan an das Leuchten eines tiefblauen Himmels, wie es nur in großer Höhe im Gebirge vorkommt. Das Blau bildete einen interessanten Kontrast zu seiner dunkelvioletten Kleidung aus schwerem Brokat.
Der Fremde
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