Das Siegel der Macht
die anderen folgten.
Elana besann sich nicht lange. Aus voller Lunge schrie sie, so laut sie konnte. Als ihr die Luft ausging, schlüpfte sie in die Hütte und versteckte sich hinter einem mit Stroh beladenen Karren. Einige Halme fielen vom Haufen und verfingen sich in ihrem Haar.
Durch die Ritzen zwischen den Holzbrettern sah Elana einen Mann auf den Hühnerstall zueilen und darin verschwinden. Die Hennen begannen wild zu gackern. Fast sofort kam der Mann wieder hinaus, näherte sich ihrem Versteck. Die junge Frau hielt den Atem an. Aber der Krieger guckte nur kurz ins Innere der Hütte, dann wandte er sich ab und kehrte zum Pferdestall zurück, wo seine Kumpane den Eingang stürmten.
Gebannt starrte Elana durch den Bretterspalt. Die feindliche Kriegerschar war in der Überzahl. Offenbar hatte Boso von Nebiano in Rekordzeit Verbündete gefunden. Wahrscheinlich andere secundi milites, aufgestachelt durch den großen kirchlichen Vasallen Arduin von Ivrea. Entsetzt sah Elana, wie ihre Leute überrumpelt wurden. Schreie, Schwerthiebe, Blut. Schon fesselten Bosos Leute ihre ersten entwaffneten Feinde. Die anderen ergaben sich.
Die Sächsin hatte genug gesehen. Geduckt schlich sie aus der Hütte und eilte dem Hauptgebäude zu. Der Nebeneingang stand offen. Sie trat ein und verbarrikadierte die Tür hinter sich. Als vom Portal her Lärm die Stille im Kloster zerriss, begriff Elana, dass sie in der Falle saß. Resigniert ging sie zum Scriptorium und beugte sich in der hintersten Nische über eine Schriftrolle.
Im Kloster des heiligen Martin ging es zu wie auf dem Marktplatz. Laute Stimmen, da und dort ein Schrei. Männer in der Klausur! Nonnen in fliegenden Gewändern flüchteten aus ihren Schlafräumen ins Refektorium. Zusammen fühlten sie sich sicherer.
Eine verängstigte Novizin rannte durch den Kreuzgang, stolperte und fiel Boso buchstäblich in die Arme. In panischer Angst versuchte sie sich zu befreien.
Der Herr von Nebiano lachte. »Nur keine Furcht, Kleine. Hier tut dir niemand etwas.« Er strich mit den Fingern über ihr schmales Gesicht, ließ die Augen über das hochgeschlossene Kleid wandern. Es war an der Seite zerfetzt. Boso schob die Novizin zur Seite und rief mit dröhnender Stimme: »Alle herhören, alle hierher zu mir!« Als die Krieger sich im Kreuzgang um ihn drängten, fuhr er fort: »Welcher Wahnsinnige hat dieser Klosterfrau das Kleid zerrissen? Keine Gewalttaten, das ist ein Befehl! Wer die Nonnen auch nur mit einem Finger berührt, verliert den Kopf. Wir müssen vorsichtig sein, das kaiserliche Heer befindet sich in Pavia.«
Elana stand im Eingang zum Scriptorium. Bosos Worte beruhigten sie. Leise schloss sie die Tür und sah sich um. Es war sonst niemand da. Sie setzte sich an ihren Tisch und stützte das Gesicht in die Hände, überlegte fieberhaft. Irgendeine Lösung musste es doch geben. Unruhig stand sie auf und ging zu den Gestellen mit den Schriftrollen. Überall duftete es angenehm nach Holz. Für die gebildete Sächsin hatte das Scriptorium die wärmste Atmosphäre des ganzen Klosters.
Unverhofft wurde die Tür aufgestoßen. Boso von Nebiano platzte mit dem Schwert in der Hand herein und musterte sie kritisch.
Elana hielt seinem herrischen Blick stand. Mit erhobenem Kopf trat sie vor ihn. »Hier gibt es nichts zu glotzen. Ihr könnt gehen.« Sie drehte ihm den Rücken zu und nahm ein Pergamentblatt zur Hand.
»Ich habe befohlen, den Klosterfrauen kein Haar zu krümmen«, sagte er zynisch. »Für Euch hat das aber keine Gültigkeit. Das Leben meines Sohnes gegen das Eure. Ihr habt eine Stunde Zeit, um Euch zu entscheiden.« Boso fasste Elana bei den Schultern und drehte sie um. Erwartungsvoll starrte er sie an. Keine Antwort. Boso fuhr fort: »Wenn Ihr nicht wollt, umso besser. In einer Stunde stürmen wir den Turm. Meinem befreiten Sohn wird es ein Vergnügen sein, sich an Euch zu rächen.«
»Wisst Ihr nicht, dass ich unter dem Schutz des Kaisers stehe?« Elanas Augen sprühten Blitze.
Boso gab keine Antwort, warf anzügliche Blicke auf ihre weiblichen Formen, streckte die Hand nach dem blonden Haar aus. »Was haben wir denn da?«, rief er belustigt aus. »Schmücken die feinen Damen ihr Haar neuerdings mit Strohhalmen, oder wart Ihr draußen im Stall?«
Elana erschrak und drehte sich um.
»Schaut mich an, wenn ich mit Euch spreche.« Wütend riss der Herr von Nebiano sie herum. »Ihr habt vorhin geschrien wie am Spieß! Pech für Euch. Das hat vier Eurer Männer das Leben
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