Das Siegel der Tage
zehrt, und später lieben sie das Kind nicht. Kannst du dir vorstellen, welche Narbe auf derSeele von jemandem bleibt, der von Geburt an abgelehnt wird?«
»Sicher, Nico, es gibt Ausnahmen, aber der ganz überwiegende Teil der Frauen wünscht sich Kinder und opfert sich auf, wenn sie da sind. Man muß nicht befürchten, daß die Menschheit an Kindermangel zugrunde geht.«
Ehefrau auf Bestellung
Lili kam mit einem drei Monate gültigen Verlobtenvisum aus China und mußte Tong innerhalb dieser Frist heiraten oder in ihre Heimat zurückkehren. Sie war eine muntere und hübsche Frau, wirkte, obwohl um die dreißig, wie Anfang Zwanzig und war so wenig von der westlichen Kultur verunreinigt, wie ihr zukünftiger Ehemann sich das wünschte. Zudem sprach sie kein Wort Englisch; besser so, dann würde man sie leichter unter der Fuchtel halten können, urteilte die Schwiegermutter in spe, die vom ersten Tag an die traditionelle Methode gebrauchte, der Schwiegertochter das Leben unerträglich zu machen. Lilis Mondgesicht und ihre strahlenden Augen schienen uns unwiderstehlich, sogar meine Enkel verliebten sich in sie. »Armes Kind, sie wird es nicht leicht haben, sich einzuleben«, meinte Willie, als er erfuhr, daß Lili im Morgengrauen aufstand, um die Hausarbeit zu erledigen und die komplizierten Gerichte vorzubereiten, wie ihre winzige, aber drachenhafte Schwiegermutter das von ihr verlangte, die sie herumschubste und anschrie. »Wieso schicken Sie die Alte nicht zum Teufel?« versuchte ich Lili in Zeichensprache zu fragen, aber sie verstand mich nicht. »Halt dich raus«, kam die alte Leier von Willie, und dann behauptete er noch, ich wisse nichts über die chinesische Kultur; aber ein bißchen mehr als er weiß ich schon, zumindest habe ich Amy Tan gelesen. Diese Braut aus dem Katalog war nicht so verhuscht, wie Willie nach dem ersten Kennenlernen behauptet hatte, da war ich mir sicher. Sie besaß die Bodenständigkeit und das breite Kreuz der Bauersfrau, aus ihrem Blick und ihren Gesten sprach Entschlossenheit; sie hätte Tongs Mutter ungespitzt in den Boden rammen können und Tong hinterher, hätte sie das gewollt. Von einem süßen Täubchen keine Spur.
Kurz bevor Lilis Dreimonatsvisum abzulaufen drohte, teilte Tong uns mit, daß sie heiraten würden. Als Anwalt und Freund erinnerte Willie ihn daran, daß die junge Frau nur einen einzigen Grund für diesen Schritt hatte, weil sie nämlich in den Vereinigten Staaten bleiben wollte, und hier brauchte sie bloß für zwei Jahre einen Ehemann: Danach konnte sie sich scheiden lassen und würde ihre Aufenthaltserlaubnis trotzdem bekommen. Tong hatte sich das reiflich überlegt, er war nicht so naiv, anzunehmen, das Mädchen aus dem Internet habe sich auf den ersten Blick in ihn verliebt, wie sehr Lori sein Porträt auch retouchiert haben mochte, doch fand er das Arrangement für beide Seiten vorteilhaft: Er bekam die Chance auf einen Sohn, sie die auf ein Visum. Man würde ja sehen, was von beidem sich zuerst einstellte, jedenfalls war er bereit, es drauf ankommen zu lassen. Willie riet ihm, vorab einen Ehevertrag zu schließen, andernfalls könne Lili ihm einen Teil des Vermögens abknöpfen, das er in einem arbeitsamen Leben zusammengeknausert hatte, die zukünftige Braut aber stellte klar, daß sie nichts unterschreiben würde, was sie nicht lesen konnte. Also gingen die beiden zu einem Anwalt in Chinatown, der ihr das Papier übersetzte. Als sie die Tragweite dessen begriff, was da von ihr verlangt wurde, lief Lili rotebeterot an und erhob zum ersten Mal ihre Stimme gegen Tong. Was ihm und diesem Winkeladvokaten einfalle, ihr zu unterstellen, sie würde nur wegen des Visums heiraten! Sie sei gekommen, um mit Tong eine Familie zu gründen! Und sie beschämte den Bräutigam und den chinesischen Anwalt zutiefst. Tong und Lili heirateten ohne Vertrag. Als Willie mir das berichtete, sprühte er Funken vor Zorn, er konnte nicht fassen, daß sein Buchhalter ein solcher Esel war, wie hatte er nur derart dämlich sein können, jetzt war er geliefert, er hatte doch mitbekommen, wie Willie von sämtlichen Frauen ausgenommen worden war, die seinen Weg gekreuzt hatten, und so weiter und so fort die schlimmsten Unkenrufe. Dies eineMal hatte ich das Vergnügen, ihm einen guten Rat geben zu dürfen: »Halt dich raus.«
Lili meldete sich zu einem Englisch-Intensivkurs an und war nur noch mit Kopfhörer unterwegs, um sich noch im Schlaf mit Englisch berieseln zu lassen, aber das Lernen
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