Das Siegel der Tage
aber weit mehr fürchtete ich mich vor den Kreaturen, die mein eigenes Denken gebar. Ich glaubte, der Teufel erscheine nachts in den Spiegeln, die Toten würden aus ihren Gräbern steigen, wenn die Erde bebte, was in Chile ständig passiert; auf dem Speicher bei uns zu Hause gab es Vampire, in den Schränken fette, boshafte Krötenund zwischen den Vorhängen in der Stube unerlöste Seelen; unsere Nachbarin war eine Hexe und der Rost in den Wasserleitungen das Blut geopferter Menschen. Ich wußte sicher, daß das Gespenst meiner Großmutter mir über die Brotkrümel oder die Form der Wolken verschlüsselte Botschaften schickte, aber das jagte mir keine Angst ein, es war eine meiner wenigen beruhigenden Vorstellungen. Die Erinnerung an diese ätherische und heitere Frau ist mir immer ein Trost gewesen, selbst heute noch, obwohl ich schon fünfundzwanzig Jahre älter bin, als sie je geworden ist. Weshalb umgab ich mich nicht mit libellengleich geflügelten Elfen oder edelsteinbeschuppten Nixen? Weshalb war alles so gruselig? Ich wüßte es nicht zu sagen, vielleicht leben die meisten Kinder mit einem Fuß in solchen Albtraumgefilden. Für meine Jugendbücher halfen mir meine makabren Kinderphantasien kaum weiter, schließlich ging es nicht darum, sie mir ins Gedächtnis zu rufen, sondern sie noch einmal am eigenen Leib zu erfahren, wie man sie als Kind erfährt, mit ihrer ungedämpften Wucht. Ich mußte wieder das Kind werden, das ich gewesen war, dieses stille, von der eigenen Vorstellungswelt gepeinigte Mädchen, das wie ein Schatten durch das Haus des Großvaters geisterte. Dazu war es nötig, den rationalen Schutzwall einzureißen und meinen Geist und mein Herz zu öffnen. Eine schamanistische Erfahrung könnte mir dabei helfen, überlegte ich, ausgelöst vom Ayahuasca, einem Gebräu, das aus der Banisteriopsis-Liane gewonnen und von den Indianern am Amazonas verwendet wird, um Visionen hervorzurufen.
Willie wollte nicht, daß ich allein Kopf und Kragen riskierte, und blieb wie so oft in unserem gemeinsamen Leben an meiner Seite, ohne lange nachzufragen. Wir tranken von dem dunklen, übelriechenden Aufguß nur knapp eine Drittel Tasse, aber er schmeckte so ekelhaft bitter, daß wir ihn kaum runterbekamen. Wahrscheinlich stimmt etwas mit meiner Hirnrinde nicht – ich gehe ja immer ein wenigverquer durchs Leben –, jedenfalls verpaßte mir das Ayahuasca, das anderen Menschen einen sanften Schubs ins Reich der Geister versetzt, einen Fußtritt, der mich so weit fortschleuderte, daß ich erst zwei Tage später wieder nach Hause fand. Eine Viertelstunde nachdem ich es getrunken hatte, setzte mein Gleichgewichtssinn aus, und ich legte mich auf den Boden, von dem ich fürs erste nicht mehr hochkam. Ich geriet in Panik und rief nach Willie, der es schaffte, an meine Seite zu robben, worauf ich mich an seine Hand klammerte wie an einen Rettungsring im schlimmsten Sturm, der sich denken läßt. Ich konnte weder sprechen noch die Augen öffnen. Ich verlor mich in einem Strudel geometrischer Figuren und leuchtender Farben, faszinierend zunächst, dann nur noch zu viel. Ich hatte das Gefühl, mich von meinem Körper zu lösen, mein Herz wollte zerspringen, und schreckliche Angst überkam mich. Da war ich wieder das Kind, gefangen zwischen den Dämonen in den Spiegeln und den unerlösten Seelen in den Vorhängen.
Kurz darauf verflüchtigten sich die Farben, und der schwarze Fels tauchte auf, der schon fast vergessen in meiner Brust ruhte, bedrohlich wie mancher Gipfel in den bolivianischen Anden. Ich wußte, ich mußte ihn bezwingen oder ich würde sterben. Ich versuchte, darüber zu klettern, aber er war glitschig, ich wollte ihn zur Seite rollen, aber er war riesenhaft, ich begann, Brocken herauszubrechen, aber das war eine Aufgabe ohne Ende, und unterdessen wuchs in mir die Gewißheit, daß dieser Felsblock alle Schlechtigkeit der Welt enthielt, daß er voller böser Geister war. Ich weiß nicht, wie lange ich damit zu tun hatte, in diesem Zustand hat die Zeit nichts gemein mit der, die von den Uhren gemessen wird. Plötzlich spürte ich einen Schub wie von einem Stromschlag, ich stieß mich mit aller Kraft vom Boden ab und erhob mich über den Fels. Für einen kurzen Augenblick fand ich in meinen Körper zurück: Ich krümmte mich vor Ekel, tastete nach dem Eimer, den ich bereitgestellthatte, und erbrach Galle. Übelkeit, Durst, Sand im Mund, Starre. Ich spürte oder begriff, was meine Großmutter gemeint hatte, als sie
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