Das Siegel der Tage
erwies sich als mühevoller und langwieriger als erwartet. Sie suchte Arbeit und fand trotz ihrer soliden Ausbildung und ihrer Erfahrung als Krankenschwester nichts, weil sie die Sprache nicht beherrschte. Wir baten sie, bei uns zu putzen und die Kinder von der Schule abzuholen, weil Ligia mittlerweile nicht mehr arbeitete; eins nach dem anderen hatte sie ihre Kinder aus Nicaragua zu sich geholt, hatte dafür gesorgt, daß sie auf die höhere Schule gingen, und als alle im Beruf standen, konnte sie endlich aufhören zu arbeiten. Bei uns würde Lili ein bißchen Geld verdienen können, bis sie etwas gefunden hätte, was ihren Fähigkeiten angemessen war. Sie nahm das Angebot dankbar an, als würden wir ihr einen Gefallen tun, obwohl sie eigentlich uns einen tat.
Die Kommunikation mit Lili gestaltete sich am Anfang überaus vergnüglich: Ich klebte ihr Zeichnungen an den Kühlschrank, aber Willie schrie sie lauthals auf englisch an, und sie antwortete immer nur mit »No!« und ihrem bezauberndsten Lächeln. Einmal kam Roberta zu Besuch, eine transsexuelle Freundin, die vor ihrer Geschlechtsumwandlung Offizier der Marines gewesen war und Robert geheißen hatte. Robert hatte in Vietnam gekämpft und die Tapferkeitsmedaille bekommen, der Tod Unschuldiger hatte ihm aber schwer zugesetzt, weshalb er den Dienst quittierte. Dreißig Jahre hatte er seine Frau geliebt, die ihm auf dem Weg, selbst zur Frau zu werden, beistand und mit ihm zusammenblieb, bis sie an Brustkrebs starb. Wenn man den Fotos glauben darf, war Roberta früher ein haariges Mannsbild mit kantigem Unterkiefer und einer Nase wie ein Preisboxer. Er hatte eine Hormonbehandlung über sich ergehen lassen, verschiedene Schönheitsoperationen,Elektroepilation zur Beseitigung der Körperhaare und schließlich eine Genitaloperation, aber das Ergebnis war wohl nicht restlos überzeugend, jedenfalls starrte Lili Roberta mit offenem Mund an und nahm dann Willie am Arm, um ihn hinter geschlossener Tür etwas auf chinesisch zu fragen. Mein Mann mutmaßte, daß es um das Geschlecht unserer Freundin ging, und begann Lili die Angelegenheit im Flüsterton auseinanderzulegen, steigerte die Lautstärke aber nach und nach, bis er schließlich aus Leibeskräften so etwas brüllte wie, es handele sich um einen Mann mit der Seele einer Frau. Ich wäre fast vor Peinlichkeit gestorben, aber Roberta nippte weiter wohlerzogen an ihrem Tee, knabberte Gebäck und tat, als vernähme sie das Geschrei der Irren hinter der Tür nicht.
Meine Enkel und unsere Hündin Olivia adoptierten Lili. Unser Haus war nie sauberer gewesen, sie desinfizierte es, als sollte in unserem Eßzimmer eine Operation am offenen Herzen stattfinden. So wurde sie Teil unserer Sippe. Mit ihrer Heirat verschwand ihre Scheu; sie atmete tief durch, streckte sich, machte den Führerschein und kaufte sich ein Auto. Für Tong war sie ein Sonnenschein, noch heute sieht er, obwohl älter geworden, besser aus, weil Lili ihm elegante Sachen kauft und ihm die Haare schneidet. Was nicht heißt, daß die beiden sich nicht streiten, denn er behandelt sie wie ein Despot. Ich wollte Lili mit Händen und Füßen klarmachen, daß sie ihm das nächste Mal, wenn er sie anschreit, den Wok über den Schädel ziehen soll, aber sie hat mich wohl nicht verstanden. Nur Kinder fehlen ihnen noch, weil sie Schwierigkeiten mit der Fruchtbarkeit hat und er nicht mehr der Jüngste ist. Ich riet ihnen, ein Kind in China zu adoptieren, aber dort bekommt man keine Jungen, und »kein Mensch will ein Mädchen«. Dasselbe, was ich in Indien zu hören bekam.
Magie für die Enkel
Als ich Porträt in Sepia beendet hatte, holte mich ein Versprechen ein, das ich nicht länger aufschieben konnte: drei Abenteuerromane für Alejandro, Andrea und Nicole zu schreiben, einen für jeden von ihnen. Wie früher meinen Kindern hatte ich auch meinen Enkeln von Beginn an nach einem ausgeklügelten System Geschichten erzählt: Sie gaben mir drei Stichworte oder Themen vor, und ich hatte zehn Sekunden Zeit, mir eine Geschichte auszudenken, die alle drei miteinander verband. Die Kinder sprachen sich ab, um mir die verrücktesten Begriffe zu nennen, und wetteten, daß ich nicht in der Lage sein würde, sie miteinander zu verbinden, aber da ich schon 1963 mit dir, Paula, angefangen hatte, war ich mindestens so gut in Übung, wie die drei gutgläubig waren, und fand immer eine Lösung. Schwierig wurde es erst eine Woche später, wenn sie mich baten, die Geschichte von der
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