Das Siegel der Tage
und Matrosenkäppi.
Im Jahr zuvor hatte Ernesto genau am 6. Dezember, deinem Todestag, die Zusage von der Universität erhalten, in Abendkursen seinen Master zu machen, und die beste staatliche Schule im County, eine Viertelstunde Fahrt von zu Hause aus, stellte ihn als Mathematiklehrer an. Davor war er einige Monate arbeitslos gewesen, in denen er grüblerischen Gedanken über seine Zukunft nachhing und eine düstere Wolke über seinem Kopf schwebte. Giulia, immer sonnig und zuversichtlich, zweifelte als einzige nie daran, daß ihr Mann einen Weg für sich finden würde, während wir anderen in der Familie etwas nervös wurden. Onkel Ramón erinnerte mich in einem Brief daran, daß viele Männer um die Vierzig eine Krise durchmachen, die Teil eines Reifeprozesses ist. Er hatte seine 1945 erlebt, als er sich in Peru in meine Mutter verliebte, sechzig Jahre war das schon her. Er war in ein Hotel in den Bergen gefahren, hatte sich tagelang allein im Zimmer eingeschlossen, und als er wieder herauskam, war er ein anderer geworden: Er hatte sich für immer vom katholischen Glauben gelöst, vom Druck seiner Angehörigen und von der Frau, mit der er damals verheiratet war. Seine Kindheit, sein Erwachsenwerden und sein ganzes bisheriges Leben hatte er in der Zwangsjacke der gesellschaftlichen Konventionen verbracht. Jetzt hatte er sich mit einem Ruck von ihr befreit und die Angst vor der Zukunft verloren. Damals wurde ihm klar, was er mir später, als ich in die Pubertät kam, beibrachte und was ich nie vergessen habe: »Die anderen haben mehr Angst als du.« Das sage ich mir in jeder furchteinflößenden Situation vor, sei es angesichts eines ausverkauften Zuschauerraums oder angesichts der Einsamkeit. Ich glaube Onkel Ramón aufs Wort, daß er über sein Leben auf so drastische Art entschieden hat, denn bei anderer Gelegenheit habe ich ihnähnlich entschlossen gesehen, etwa, als er meinen Bruder Pancho, der damals ungefähr zehn gewesen sein muß, beim Rauchen erwischte. Am Abend drückte Onkel Ramón seine Zigarette vor unseren Augen aus und sagte: »Das war die letzte Zigarette meines Lebens, und wenn ich einen von euch rauchen sehe, ehe er volljährig ist, kriegt er es mit mir zu tun.« Er hat nie wieder geraucht. Zum Glück überstand Ernesto seine Krise und war, als seine Töchter geboren wurden, bereit, sie zu empfangen, hatte sich als Mathematiklehrer für die Oberstufe bereits etabliert und studierte, um später an der Universität lehren zu können.
Alfredo López Gefiederte Echse kam auf einem spanischsprachigen Sender im Fernsehen und sah, dunkel angezogen, mit einem schmalen Stirnband und etlichen Halsketten aus Silber und Türkisen, besser aus denn je. Tabra rief mich um zehn am Abend an, damit ich ihn mir via Kabel betrachtete, und ich mußte zugeben, daß er sehr attraktiv wirkte; hätte ich ihn nicht so gut gekannt, sein Anblick auf der Mattscheibe hätte mich bestimmt beeindruckt. Er sprach Englisch – untertitelt –, führte bedächtig wie ein Universitätsprofessor und moralisch überzeugt wie ein Apostel die gerechten Beweggründe seiner Mission zur Wiedererlangung von Moctezumas Federkrone aus, dem Symbol für Würde und Tradition des Volks der Azteken, vom europäischen Imperialismus in Geiselhaft genommen. Jahrelang habe er in der Wüste gepredigt, doch nun sei seine Botschaft ans Ohr der Azteken gedrungen und habe ihre Herzen wie Pulver entflammt. Der mexikanische Präsident werde eine Abordnung von Juristen nach Wien entsenden, um mit der Volksvertretung jenes Landes die Rückgabe der geschichtsträchtigen Trophäe auszuhandeln. Am Ende rief er die mexikanischen Einwanderer in den USA dazu auf, sich dem Kampf ihrer aztekischen Brüder anzuschließen und die Regierung der Vereinigten Staaten zum Druck aufdie Österreicher zu bewegen. Ich beglückwünschte Tabra, daß ihr Freund den Sprung in die Berühmtheit geschafft hatte, aber sie antwortete mir seufzend, wenn ihr die Echse schon früher durch die Finger geglitten sei, so sei sie jetzt bestimmt gar nicht mehr zu fangen. »Vielleicht kommt er ja mit nach Costa Rica, wenn er die Krone bis dahin zurückgebracht hat. Also, falls ich je genug zusammensparen kann, um dieses Land zu verlassen«, sagte sie, wenig überzeugt. ›Vorsicht mit den Wünschen, nicht daß der Himmel sie dir erfüllt‹, dachte ich, hielt aber den Mund. Tabra kaufte schon seit einiger Zeit Goldmünzen und versteckte sie bei sich daheim, auf die Gefahr hin, beklaut zu
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