Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
der scharfe Tonfall strafte die demütigen Worte Lügen.
»Wollen wir nicht zum Pass hinaufsteigen?«, mischte sich
Juliana ein und sah zum Himmel empor, wo sich schon wieder regenschwere Wolken ballten. Düster und bedrohlich schoben sie sich über die Bergkette.
Bruder Rupert nickte. »Sputen wir uns, bevor sich der Weg in einen Sturzbach verwandelt.« Er schwang seinen Stab und ging raschen Schrittes voran, obwohl der Weg nun zunehmend steiler wurde.
Vilafranca war die letzte Stadt vor dem Pass. Sie war sehr alt. Bereits unter den römischen Kaisern hatten hier die fremden Besatzer in einer Siedlung namens Auca gelebt, unter den frühen Christen wurde der Ort Bischofssitz. Doch seit dieser vor zweihundert Jahren nach Burgos verlegt worden war, ging es mit der Stadt bergab. Die fünf Pilger kamen an vielen verlassenen Häusern vorbei, von denen zum Teil nur noch die Grundmauern standen, die Straßen waren von Unrat bedeckt.
»Die Sarazenen haben die alte Stadt zerstört«, erklärte Pater Bertran, der seinen Streit mit dem Bettelmönch anscheinend vergessen hatte. »König Alfons VI. versuchte zwar, mit Hilfe des heiligen Domingo und seines Schülers Juan de Ortega eine neue Stadt aufzubauen, aber die Verlegung des Bischofssitzes hat ihr die Kraft geraubt. Im Winter ist der Ort von Pilgern völlig übervölkert, die sich verspätet haben und den Weg über die verschneiten Berge nicht mehr schaffen. Dann platzt jede Herberge und jedes Hospital aus allen Nähten. Den Rest des Jahres jedoch geht der Verfall von Vilafranca weiter.«
Sie füllten noch einmal ihre Kürbisflaschen und baten beim Spital des heiligen Jakob um Brot, dann verließen sie die Sicherheit der Siedlung und stiegen einen steilen, steinigen Hohlweg hinauf. Dornenbüsche säumten die Böschungen und verwehrten den Blick über das Land. Bald schon hörte das Steinpflaster auf, und sie mussten sich zwischen tief ausgewaschenen Rinnen ihren Weg suchen. Die Böschung verflachte sich, und
als sie um eine Biegung kamen, sahen sie die Stadt unter sich liegen. Für einen Moment rissen die grauen Wolken auf, und ein Sonnenstrahl strich über die Dächer der Häuser. Weit dehnte sich das Land unter ihnen mit seinen rotbraunen Feldern und den dürren Wiesen bis zu den Bergen am Horizont, auf deren Gipfeln schon der erste Schnee lag. Bald hatten sie die Felder des Ortes hinter sich gelassen. Heide und Buschwerk säumten nun ihren Weg. Eine Windböe rauschte den Berghang hinab und zerrte an den Umhängen der Pilger, die sich beeilten voranzukommen. Nun stiegen sie durch immer dichter werdenden Eichenwald bergan. Die Blätter begannen bereits sich braun zu verfärben. Hier oben war der Winter nicht mehr weit. Nur der Ginster an den Wegrändern leuchtete in frischem Grün zwischen dunklem Heidekraut. Wie herrlich musste es hier im Frühling sein, wenn der gelbe Ginster mit purpurnem Heidekraut in seiner Blüte wetteiferte. Dazwischen drängten sich stachelige Büsche, die die Leute hier Tojo nannten.
Juliana schwitzte. Im Wald war es windstill, und als sie höher kamen, verstummte auch das Zwitschern der Vögel. Düster und feindselig kamen ihr die Bäume vor, die über den Köpfen der Pilger ihre Äste ineinander verschränkten und den Blick zum Himmel verwehrten. An den Stämmen wuchsen graue Flechten. Fast sehnte sich Juliana nach einer Abkühlung.
Der Wind jedoch, der die Wanderer traf, sobald sie über die Hangkante des ersten Höhenzuges kamen, war so eisig, dass sie sich bald wünschte, wieder in den Schutz des Waldes zurückkehren zu können. Weite Flächen der sanft gewellten Hochebene waren nur von verkrüppelten Büschen und dürrem Gras bewachsen, über die kalte Böen hinwegheulten. Die rote Erde unter ihren Füßen war aufgeweicht, in den Senken hatten sich kleine Teiche gebildet, in deren Wasser sich der düstere Himmel spiegelte. Die Wolken schienen auf die Wanderer herabzudrücken. Der Wind entriss ihnen weiße Nebelfetzen und trieb sie vor sich her, bis sie in den Kronen der wenigen, abgestorbenen Eichen, die hier noch wuchsen, hängen blieben.
Welch seltsame Geräusche, dachte das Mädchen und lauschte dem Heulen, das an- und abschwoll, mal vor und dann wieder hinter ihnen erklang.
Es hört sich gar nicht wie der Wind an, der bei uns um die Burg streift oder über die grasigen Berge. Es klingt fast wie…
Das Mädchen blieb mit einem Keuchen stehen. »Bruder Rupert, hört Ihr das? Was glaubt Ihr, ist das? Der Wind?«, fragte sie
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