Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
vor der Mauer, rund um das Spital und bis hinauf zum Kloster der Dominikaner auf dem Hügel, mit zur Stadt gehören müsse, nun endlich lässt man Taten folgen. Im Westen ist die neue Stadtmauer schon fast fertig. Viele ihrer Steine stammen von der alten Mauer im Süden, die nun abgebrochen wird. Statt eines Grabens zieht sich nun eine neue Hauptgasse am Spital entlang durch die Stadt. Jeden Tag ist ein ganzes Heer von Männern dabei, den neuen Graben zu vertiefen und Steine zu Mauern aufzuschichten, während Frauen und Kinder Mist und Schlamm treten und den Mörtel rühren, Erde wegschleppen und Wasser holen. Noch liegt viel Arbeit vor ihnen: Der gesamte Osten der neuen, großen Stadt ist ein einziges, offenes Tor.
Juliana geht durch die neue Hauptstraße am Spital vorbei und verlässt ungehindert die Stadt. Der Karrenweg bringt sie den Hügel herunter ins Neckartal. Sie passiert den Friedhof mit der Kirche. Als sie die Talstadt erreicht, ist die Sonne bereits aufgegangen und das Stadttor geöffnet. Eilig überquert sie den Platz mit den Linden und betritt die Kirche der Stiftsherren durch das alte Westportal. Es ist still. Die ersten Sonnenstrahlen dringen durch die hohen Spitzbogenfenster im Chor und bringen das farbige Glas zum Leuchten. Heute hat Juliana nicht die Muße, die in den Rechtecken dargestellten Geschichten aus dem Neuen und Alten Testament zu betrachten. Sie durchquert das Mittelschiff und strebt auf die Tür im nördlichen Querschiff zu. Sie klopft, aber es rührt sich nichts. Sind die Stiftsherren
noch nicht da, oder wollen sie bei ihrer Kapitelversammlung nicht gestört werden? Den Kreuzgang zu betreten, der hinter dieser Tür liegt, wagt Juliana nicht. Auch wenn dies kein Kloster ist und die adeligen Herren statt in der Gemeinschaft einer Klausur in eigenen Häusern in der Talstadt leben, können sie es nicht gutheißen, wenn eine Frau in das Stift eindringt.
Hinter dem Mädchen ertönen Schritte. Es ist der alte Mesner, der mit gebeugtem Haupt auf sie zuschlurft.
»Einen guten Morgen und Gottes Segen«, grüßt sie ihn. »Sind die Herren im Kapitelsaal?«
Der Alte sieht sie einige Augenblicke verwirrt an, dann schüttelt er den Kopf. »Nein, ist noch zu früh. Ein paar der Herren waren vor Sonnenaufgang da, um die Gebete zu den Laudes zu sprechen und zu singen, aber die sind schon wieder weg.«
»Und der Dekan?«, bohrt Juliana weiter.
»Der Herr von Hauenstein wird daheim bei seinem Frühmahl sitzen«, vermutet der Mesner. »Ich habe ihn heute noch nicht gesehen.«
»Er kam nicht zu den Laudes?«
Der Alte schüttelt den Kopf und tappt weiter auf den Altar zu. Juliana folgt ihm.
»Wisst Ihr, wo der Gefangene ist, den der Dekan in der Nacht mit zum Stift brachte?«
Der Mesner bleibt stehen und dreht sich zu ihr um. »Ein Gefangener? Hier im Stift?« Er klingt empört. »So etwas haben wir nicht! Wenn du nach einem Gefangenen suchst, musst du oben in der Pfalz zu den Bergfrieden gehen. Dort gibt es Verliese.«
Das Mädchen verabschiedet sich und tritt wieder auf den Platz hinaus. Neben dem Haus des Propstes Heinrich von Duna ist das des Dekans das prächtigste. Sie klopft nicht an, sondern schiebt die Tür auf und tritt in die Halle. Juliana war schon oft hier, entweder mit den Eltern zum Mahl geladen oder zu ihren
Unterrichtsstunden bei dem väterlichen Freund, der mit ihr in Büchern gelesen und sie Französisch und Latein gelehrt hat. Sicher ist er in der kleinen Stube mit dem Kachelofen, in der er stets seine Mahlzeiten einnimmt, wenn keine Gäste zu bewirten sind. Vielleicht hat er den Vater mit zu sich genommen und sitzt jetzt in diesem Augenblick mit ihm zusammen bei Gewürzwein und kaltem Fleisch. Ihr Herz beginnt rascher zu schlagen. Die Hoffnung, ihn zu sehen, treibt sie an, die Angst vor der Wahrheit, die sie nicht hören will, hält sie zurück. Stufe für Stufe steigen ihre weichen Lederschuhe nach oben. Die Tür zur großen Stube ist nur angelehnt. Ein Lichtstreif fällt auf den Gang. Worte schallen ihr entgegen. Die Hand auf der Klinke bleibt das Ritterfräulein stehen.
»Wenn ich diesen Pfaffen zwischen meine Fäuste bekomme!«, knurrt eine Stimme, die Juliana bekannt vorkommt.
»Wie könnt Ihr solche Reden führen!«, ereifert sich die noch helle Stimme des Jungen, der als Schüler und Page dem Dekan dient. »Mein Herr ist ein edler Mann.«
»Bruder Humbert, mäßige dich! Es steht dir nicht zu, so über den Dekan zu sprechen. Lass uns den Bericht erst zu Ende
Weitere Kostenlose Bücher