Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
die Augen und sieht sich um. Die Kirche ist noch ganz neu und wird normalerweise nur von den Dominikanermönchen genutzt. Die Bürger und Hintersassen von Wimpfen haben ihre Stadtkirche auf dem Hügel gegenüber. Die Sonne malt durch die Chorfenster bunte Muster auf den Boden des großen Hallenschiffs. Juliana überlegt, wo genau früher der Galgen gestanden hat. Sind seine Reste hier irgendwo unter der Kirche oder draußen auf dem Friedhof? Liegen hier unter ihren Füßen die Körper hingerichteter Mörder? Mörder, wie auch ihr Vater nun einer ist. Jetzt muss sie doch weinen. Hastig wischt sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
Schritte vor der Tür. Das Portal wird langsam aufgeschoben. Ein Quietschen ertönt, dann hört sie Sohlen auf den Steinplatten. Ein langes Gewand raschelt. Grüner Stoff mit goldener Borte. Die Schuhe sind aus weichem Leder.
»Die Pferde sind gesattelt, und deine Mutter ist zum Aufbruch bereit. Du willst sie doch sicher nicht länger warten lassen.«
Er streckt seine Hand aus, und Juliana lässt es zu, dass er ihr beim Aufstehen hilft. Sie hebt den Blick und sieht in seine grünen Augen, die hier in der düsteren Kirche wie saftiges Moos im Morgentau schimmern.
»Pater, könnt Ihr mir sagen, warum?«
Gerold von Hauenstein schüttelt den weißen Haarschopf. »Nein, mein Kind. Ich kann dich nur bitten zu vertrauen.« Er reicht ihr den Arm und zieht ihre Hand durch seine Armbeuge.
»Wisst Ihr es nicht, oder wollt Ihr es mir nicht sagen?«
Der Dekan hält ihr die Tür auf. Das Sonnenlicht sticht in ihren Augen.
»Ich weiß manches, doch längst nicht alles. Ich habe geschworen, nicht darüber zu sprechen, solange es noch nicht vorbei ist.«
Juliana bleibt stehen. »Noch nicht vorbei? Was soll das bedeuten?«
Er tätschelt ihre Hand und zwingt sie mit sanftem Druck, die Gasse hinabzugehen.
»Dein Vater ist kein schlechter Mensch, das darfst du mir glauben. Er wurde von den Ereignissen erfasst und mitgerissen. Wir sind nur kleine Menschen auf Gottes Welt. Wie können wir begreifen, was ER mit uns vorhat? Was ER uns mit solchen Ereignissen sagen will? Den Tod durch den Henker jedenfalls hat der Ritter nicht verdient! Verstehe, mir blieb nicht viel Zeit zu entscheiden, aber ich glaube, jetzt ist der Vater auf dem rechten Weg. Habe Vertrauen und bete. Wenn es Gott gefällt, dann wird er zurückkehren und seine Ehre und sein Seelenheil wiedergewonnen haben.«
»Werdet Ihr mir sagen, wohin er geht?« Sie weiß, dass es die Straße nach Sankt Jakob ist, will es aber aus seinem Mund noch einmal hören.
Dekan von Hauenstein schüttelt den Kopf. »Nein, kein Mensch soll davon wissen. Es ist besser so, glaube mir.«
Hat er kein Vertrauen zu ihr? »Ich würde es dem Franzosen und seinem Knecht nicht verraten«, entrüstet sich das Mädchen. »Glaubt Ihr, sie würden ihm nachreiten und den Tod des Waffenbruders auf eigene Faust rächen?«
Gerold von Hauenstein zögert. »Wer weiß? Ich kann nicht in ihre Herzen sehen.«
Das Ritterfräulein schweigt und geht neben ihm her am Spital vorbei zum unteren Tor, an dem heute wieder eifrig gebaut wird. Vielleicht schon bald wird Wimpfen wieder von einem geschlossenen Mauerring geschützt. Ein Gedanke drängt sich in ihren Sinn. Fürchtet der Dekan, sie könne dem Vater nachreisen, wenn er ihr verrät, wohin er sich gewandt hat? Nachdenklich kaut sie auf ihrer Unterlippe. Warum sollte sie? Sind die Fragen drängend genug, dass sie sich in ein Lumpengewand hüllen und sich den Gefahren der Landstraße aussetzen würde? Tag für Tag mit brennenden Füßen im Straßenstaub,
die Nächte unter Fremden, mit hungrigem Bauch auf ungezieferverseuchtem Stroh. Der Gedanke erschreckt sie. Sie muss sich in Geduld üben. Der Vater wird ihr antworten, wenn er zurück ist.
Wenn er zurückkommt! Wartet sie nicht heute noch auf Wolf und hält manches Mal vom Bergfried aus vergeblich nach ihm Ausschau? Was, wenn auch der Vater nicht mehr wiederkehrt? Sie denkt an die Pilger, die in Wimpfen an Erschöpfung und Krankheit gestorben und oben auf dem Friedhof beim Kloster begraben sind. Eine kalte Hand greift nach ihrem Herzen und presst es zusammen.
Die Edelfrau wartet im Sattel ihres Zelters. Sie hat ihre Haltung wiedergefunden. Ihre Haube sitzt perfekt, das Kinnband ist eng geschnürt, ihr zartgelbes Gewand fällt in weichen Falten über den Pferderücken. Nur ihre Miene ist noch immer erstarrt, und ihre Stimme klingt seltsam gepresst, als sie ihre Tochter
Weitere Kostenlose Bücher