Das Sigma-Protokoll
sagte Ben.
Mercandetti schaute ihn gutmütig an. »Auf welchen Informationen beruht diese Annahme?«
»Es sind keine Informationen, die ich beweisen könnte. Es sind eher konkrete Vermutungen. Dinge, die ich von Leuten erfahren habe, die es wissen müssten.«
Mercandetti schien belustigt und skeptisch zugleich. »Verfügen denn diese Leute über härtere Fakten? Vielleicht hat man einfach den Namen geändert.«
»Gibt es ein Verzeichnis, in dem solche Namensänderungen festgehalten werden?«
Der Historiker blickte hinauf zur gewölbten Decke der Bibliothek. »Sie könnten es beim Handelsregisteramt des Kantons Zürich versuchen. Dort sind alle Züricher Firmengründungen verzeichnet. Jede Firma ist verpflichtet, sich dort registrieren zu lassen.«
»Gut. Dann habe ich noch eine Frage. Und zwar zu dieser Liste hier.« Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche, auf das er die Namen der Sigma-Direktoren geschrieben hatte, und schob es über den wuchtigen Eichentisch. »Sagen Ihnen diese Namen etwas?«
Mercandetti setzte seine Lesebrille auf und überflog die Liste. »Die meisten sind bekannte Industrielle. Prosperi gehört wohl eher zur Unterwelt. Ich glaube, der ist erst vor kurzem gestorben. In Brasilien oder Paraguay, kann mich nicht genau erinnern. Die sind alle schon tot oder steinalt. Gaston Rossignol, der Bankier, der muss noch in Zürich sein.«
»Dann lebt er also?«
»Hab nichts Gegenteiliges gehört. Muss aber auch schon achtzig oder neunzig sein.«
»Wie kann ich ihn finden?«
»Haben Sie es schon mit dem Telefonbuch versucht?«, fragte Mercandetti und schaute ihn belustigt an.
»Es gibt ein paar Rossignols. Aber nicht mit dem richtigen Vornamen.«
Mercandetti zuckte mit den Schultern. »Rossignol war einer der Großen im Finanzgeschäft. War maßgeblich daran beteiligt, dass unser Bankensystem nach dem Zweiten Weltkrieg wieder stabil wurde. Er hatte viele Freunde hier. Vielleicht hat er sich nach Cap d’Antibes zurückgezogen und schmiert sich genau in dieser Sekunde Sonnenöl auf seine Leberflecken. Oder er hat andere Gründe, warum er jede Aufmerksamkeit vermeiden will. Die aktuellen Kontroversen um das Nazigold und den Zweiten Weltkrieg, die Hetze, die Rachsucht... Selbst ein Schweizer Bankier kann nicht in einem Tresorraum wohnen. Also trifft man Vorkehrungen.«
Man trifft Vorkehrungen. »Danke«, sagte Ben. »Das hilft mir schon weiter.« Dann zog er das Schwarzweißfoto, das er in dem Bankschließfach gefunden hatte, aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Kommt Ihnen einer von denen bekannt vor?«
»Was haben wir denn da?«, sagte Mercandetti aufgekratzt. »Sind Sie jetzt Bankier oder Hobby-Historiker oder Handelsreisender in alten Fotografien? Lukratives Geschäft heutzutage. Sammler zahlen Vermögen für Ferrotypien aus dem 19. Jahrhundert. Nichts für mich. Ich brauche Farbe, und zwar jeden Tag.«
»Na ja, ein Schnappschuss vom Strand ist das allerdings nicht«, meinte Ben freundlich.
Mercandetti lächelte und nahm das Foto in die Hand. »Das muss Cyrus Weston sein - klar, der Hut war sein Markenzeichen. Der da sieht wie Avery Henderson aus, schon lange tot. Das ist Emil Menard, der das erste wirklich moderne Firmenkonglomerat aufgebaut hat, Trianon. Das könnte Rossignol sein, bin mir aber nicht sicher. Man ist im Geiste ganz auf seinen riesigen kahlen Schädel fixiert und nicht auf einen dichten dunklen Haarschopf. Aber damals war er ja noch ein junger Mann. Und das hier ist...« Er hielt inne und schwieg eine volle Minute, bevor er das Foto auf den Tisch warf. Das Lächeln auf seinen Lippen war verschwunden. »Was für ein Spielchen ist das?«, fragte er und schaute Ben über die Ränder seiner Lesebrille an. Er machte einen verwirrten Eindruck.
»Was meinen Sie?«
»Das muss eine Fotomontage sein, eine Fälschung.« Aus seiner Stimme klang Verärgerung.
»Warum? Weston und Henderson haben sich doch sicher gekannt, oder nicht?«
»Weston und Henderson? Natürlich kannten sie sich. Aber sicher hat keiner von beiden jemals den norwegischen Großreeder Sven Norquist getroffen. Oder Cecil Benson, den britischen Automobilproduzenten. Oder Drake Parker, den Chef eines riesigen petrochemischen Konzerns. Oder Wolfgang Siebing, den deutschen Industriellen, dessen Familienunternehmen früher Kriegsgerät produzierte und jetzt für seine Kaffeemaschinen bekannt ist. Mit solchen Leuten hatten Weston und Henderson nie zu tun. Ein paar von den Männern auf dem Foto waren Erzfeinde
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