Das Sigma-Protokoll
Wagenboden gelegen haben. Von mir haben Sie die jedenfalls nicht.«
Anna nickte, stieg aus und ging auf das Haus zu.
Die Haustür öffnete sich, zwei Männer erschienen unter der Außenlampe und redeten miteinander. Ein älterer und ein jüngerer.
Lenz und Hartman.
Lenz lebte. Wenigstens etwas.
Die beide schüttelten sich freundlich die Hand. Dann ging Hartman den Weg Richtung Gartentor hinunter.
Plötzlich ging im Innenraum des Peugeot das Licht an. Die Fahrertür öffnete sich, und der Mann stieg aus. Über seinem rechten Unterarm hing ein Trenchcoat.
Und dann sah sie zum ersten Mal sein Gesicht.
Das Gesicht kam ihr bekannt vor. Sie hatte es schon mal gesehen.
Aber wo?
Der Mann mit dem Trenchcoat über dem Arm schloss die Wagentür in dem Augenblick, als Hartman durch das Gartentor auf den Gehweg trat. Sie waren keine fünf Meter voneinander entfernt.
Anna sah den Mann ganz kurz von der Seite.
Das rief eine alte Erinnerung in ihr wach.
An ein Fahndungsfoto. Sie hatte schon mal ein Fahndungsfoto dieses Mannes gesehen. Frontansicht, Seitenansicht. Körnig. Schlechte Bildqualität. Die Assoziation, die sie dabei hatte, war eine unerfreuliche. Sie bedeutete Gefahr. Ein übler Bursche.
Richtig. Sie hatte die Fotos ein paar Mal bei der wöchentlichen Lagebesprechung angeschaut.
Genau genommen hatte es sich dabei nicht um Fahndungsfotos gehandelt. Sie waren während einer Observation aufgenommen worden. Aus ziemlich großer Entfernung. Deshalb so grobkörnig. Wegen der extremen Vergrößerung.
Genau.
Kein gewöhnlicher Verbrecher.
Ein Berufskiller.
Der Mann war ein außergewöhnlich versierter Auftragsmörder. Man wusste nur wenig über ihn - auf mehr als ein paar vage Hinweise hatte man es bislang nicht gebracht. Kollegen vermuteten, dass er kein >Freier< war, sondern einen festen Auftraggeber hatte, dass er über ungewöhnlich umfangreiche Mittel verfügte
und dass er weltweit agierte. Anna sah ein anderes Foto vor sich: die Leiche eines Gewerkschaftsführers in Barcelona, dessen Ermordung man ihm zuschrieb. Das Bild hatte sich in ihrem Gehirn festgesetzt. Vielleicht lag das an der Form des Blutflecks auf der Hemdbrust des Toten: Er sah aus wie eine Krawatte. Ein anderes Bild zeigte die Leiche eines populären Reformpolitikers aus Süditalien. Seine Ermordung wurde zunächst der Mafia zugeordnet. Später deuteten die Nachforschungen auf einen Mann, den man nur unter dem Namen >Der Architekt< kannte. Sie erinnerte sich, dass der Politiker aufgrund zuvor eingegangener Drohungen bestens bewacht gewesen war. Seine Ermordung war brillant in die Tat umgesetzt worden - in technischem wie politischem Sinn. Er wurde nämlich in einem Bordell erschossen, dessen Personal vorwiegend aus illegalen somalischen Mädchen bestand. Die Umstände machten es seinen politischen Freunden unmöglich, ihn zum Märtyrer zu stilisieren.
Der Architekt. Ein internationaler Auftragsmörder aus der obersten Spielklasse.
Angesetzt auf Benjamin Hartman.
Sie suchte nach einer Erklärung dafür: Hartman ist auf seinem privaten Rache-Trip. Okay. Aber weshalb war der Killer hier? Und was mache ich jetzt? Den Killer festnehmen?
Sie presste sich das Funksprechgerät an die Lippen und drückte auf die Sprechtaste.
»Ich kenne den Kerl«, sagte sie. »Profikiller. Ich kümmere mich um ihn. Sie kümmern sich um Hartman.«
»Entschuldigung!«, rief der Mann, während er mit raschen Schritten auf Ben zuging.
Irgendwas stimmt nicht mit dem Kerl, dachte Ben.
Der Mantel über dem Arm. Das Tempo, mit dem er auf ihn zusteuerte.
Das Gesicht. Er hatte das Gesicht schon mal gesehen. Das Gesicht würde er nie vergessen.
Ben schob zitternd vor Angst die rechte Hand unter das linke Revers seiner Jacke und fühlte den kalten, harten Stahl des Revolvers.
Sie brauchte Hartman lebend. Ein toter Hartman nützte ihr gar nichts.
Der Killer würde Hartman jeden Augenblick erledigen, da war sie sich sicher. Sie musste sofort eine Entscheidung treffen. Selbst ein lebender Hartman, der ihr jetzt durch die Lappen ging, nutzte ihr mehr als ein toter. Die Verfolgung Hartmans musste sie dann allerdings der österreichischen Polizei überlassen.
Sie hob Heislers Pistole, eine Glock.
Der Killer schien sie nicht zu bemerken. Seine ganze Konzentration galt Hartman. Sie wusste von ihrer Ausbildung her, dass der Killer gerade der größten Schwäche des Profis erlegen war - nämlich der totalen Fixierung auf sein Ziel. Kurzzeitig hatte er den Überblick
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