Das Sigma-Protokoll
breite Nase mit großen Löchern. »Ich heiße nicht Strasser«, sagte er. »Was soll der ganze Unsinn?«
»Wir kennen Ihren richtigen und Ihren falschen Namen. Lassen wir das«, sagte Anna ungeduldig. »Die Schwester - war das die, die immer zu Ihnen kommt?«
»Nein. Die, die sonst kommt, ist krank. Ich leide an Anämie, ich brauche regelmäßig meine Spritze.«
»Wo sind Sie in den letzten zwei Monaten gewesen?«
Strasser wurde unruhig. »Ich muss mich setzen«, sagte er und ging langsam durch den Flur.
Ben und Anna folgten ihm in einen hohen Raum voller Bücher: eine Bibliothek, deren Wände und Regale aus poliertem Mahagoni über zwei Stockwerke in die Höhe ragten.
»Sie halten sich versteckt, weil Sie ein Kriegsverbrecher sind«, sagte Anna.
»Ich bin kein Kriegsverbrecher«, fauchte Strasser sie an. »Ich bin so unschuldig wie ein Baby.«
Anna lächelte. »Ach ja? Und warum verstecken Sie sich dann?«
Er ließ sich nicht beirren. »In Argentinien ist es ziemlich in Mode gekommen, ehemalige Nazis auszuweisen. Es stimmt, ich war Mitglied der NSDAP. Argentinien unterzeichnet jetzt Abkommen mit Israel, Deutschland und Amerika. Sie wollen ihr Image aufpolieren. Es zählt nur noch die Meinung Amerikas. Die würden mich ausweisen, nur um sich bei den Amerikanern einzuschmeicheln. Nazis zu jagen ist ein gutes Geschäft in Buenos Aires. Manche Journalisten leben davon, die tun nichts anderes. Ich war nie ein Gefolgsmann Hitlers. Schon bald nach Kriegsbeginn war klar, dass Hitler ein Wahnsinniger war, der uns in den Ruin, in die totale Zerstörung führen würde. Männer wie ich wussten, dass Maßnahmen ergriffen werden mussten. Meine Leute haben vergeblich versucht, den Mann zu töten, um weiteren Schaden von unserer Industrie abzuwenden. Unsere Befürchtungen wurden bestätigt. Bei Kriegsende verfügte Amerika über drei Viertel des weltweit investierten Kapitals und über zwei Drittel der industriellen Kapazität.« Er lächelte. »Der Mann war einfach schlecht fürs Geschäft.«
»Wenn Sie Hitler bekämpft haben, warum schützt Sie dann immer noch das Kameradenwerk?«, fragte Ben.
»Das sind tumbe Schläger«, entgegnete Strasser verächtlich. »Was Geschichte angeht, sind die absolut ahnungslos.«
»Warum hatten Sie die Stadt verlassen?«, fragte Anna.
»Ich war in Patagonien. Auf einer Estancia, die der Familie meiner verstorbenen Frau gehört. Am Fuß der Anden, in der Provinz
Rio Negro. Eine Rinder- und Schafranch, aber sehr luxuriös.«
»Sind Sie öfter da?«
»Das war das erste Mal. Meine Frau ist im letzten Jahr gestorben, und... Warum wollen Sie das überhaupt wissen?«
»Das ist der Grund, warum Sie noch nicht tot sind. Man hat Sie nicht gefunden«, sagte Anna.
»Was reden Sie da? Wer will mich umbringen?«
Ben warf Anna einen Blick zu, der besagte, dass sie weiter Druck machen solle.
»Die Organisation«, sagte sie.
»Welche Organisation?«
»Sigma.«
Sie bluffte, aber sie tat es sehr überzeugend. Ben fielen Chardins Worte ein: Die westliche und ein großer Teil der restlichen Welt waren empfänglich für Sigmas Dienste und akzeptierten auch die sie begleitenden Erklärungen .
Jetzt begann Strasser nachzudenken. »Die neue Führungsspitze? Das ist es also.« Seine Rosinenäuglein funkelten.
»Die neue Führungsspitze? Was heißt das?«, fragte Ben nach.
»Natürlich, was sonst«, sagte Strasser wie zu sich selbst, als hätte er Bens Einwurf gar nicht gehört. »Die haben Angst, dass ich zu viel weiß.«
»Wer?«, brüllte Ben.
Strasser hob den Kopf und schaute Ben überrascht an. »Ich hab dabei geholfen, das Ganze aufzubauen. Alford Kittredge, Siebert, Aldridge, Holleran, Conover - die gekrönten Häupter der Industrie-Imperien - blickten mit Verachtung auf mich herab. Aber sie haben mich gebraucht. Ohne meine Kontakte bis in höchste deutsche Regierungskreise hätte es nicht funktioniert. Das Unternehmen konnte nur auf strikt internationaler Basis gelingen. Ich hatte das Vertrauen der Männer ganz oben. Sie wussten, dass ich Dinge für sie erledigt hatte, die mich aus der normalen menschlichen Gesellschaft ausschlossen. Sie wussten, dass ich für sie das ultimative Opfer gebracht hatte. Ich war der Mittelsmann, dem alle vertrauten. Doch nun hat sich dieses Vertrauen als das entlarvt, was es immer war - als Farce. Es stellt sich heraus, dass sie mich nur benutzt haben.«
»Sie sprachen von der neuen Führungsspitze. Gehört Jürgen Lenz dazu?«, fragte Anna. »Gerhard
Weitere Kostenlose Bücher