Das Sigma-Protokoll
worden und extrem schwer zu bekommen. Dann wollte er die verschiedensten Chemikalien. Vieles davon konnte wegen des Embargos nach dem Krieg offiziell nicht eingeführt werden. Ich musste ihm alles an eine Privatklinik schicken, die er sich in einem alten Schloss in Österreich eingerichtet hatte. Das Schloss hatte er sich nach dem Anschluss Österreichs unter den Nagel gerissen.«
»Wo in Österreich?«, fragte Anna.
»In den Alpen.«
»Wo genau? Können Sie sich an den Ort erinnern?«
»Wie soll ich das jetzt noch wissen? Das ist ein halbes Jahrhundert her. Vielleicht hat er es mir nie erzählt. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass er das Schloss immer >mein Uhrwerk< genannt hat, weil da früher mal eine Uhrenfabrik oder so was untergebracht war.«
»Lenz betrieb also in einem Schloss ein wissenschaftliches Labor. Wozu?«
Strasser zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. »Wozu wohl? Um seine Forschungen fortzusetzen.«
»Welche Forschungen?«, fragte Ben.
Strasser erwiderte nichts. Er schien abwesend zu sein, in Gedanken versunken.
»Was ist?«, fuhr Anna ihn an. »Welche Forschungen?«
»Keine Ahnung. Während des Dritten Reichs wurden viele wichtige Forschungsprojekte auf den Weg gebracht. Auch von Gerhard Lenz.«
Sonnenfeld hatte gesagt, dass Gerhard Lenz in den Lagern grauenhafte Menschenversuche durchgeführt habe. »Und Sie wissen nicht, worum genau es bei dieser Arbeit geht?«
»Heute? Nein. Damals hat sich die Organisation für so was nicht interessiert. Sigma diente von Anfang an nur dem Zweck, bestimmte politische Gruppierungen zu unterstützen oder zu unterwandern. Die Männer, über die wir hier reden, hatten schon vor Sigma einen gewaltigen Einfluss auf die Geschicke der Welt. Mit Sigma wurde ihnen klar, dass sie durch die Bündelung ihrer Kräfte noch einflussreicher werden konnten. Wenn sie als Kollektiv agierten, gab es kaum noch etwas, das sie nicht zu beeinflussen, zu steuern oder zu inszenieren in der Lage waren. Aber: Sigma war ein lebender Organismus. Und lebende Organismen entwickeln sich weiter.«
»Ja«, sagte Anna. »Mit Mitteln, die die größten Industriekonzerne der Welt zur Verfügung stellen, und Mitteln, die man der deutschen Reichsbank gestohlen hat. Wir wissen, wer die Gründungsmitglieder von Sigma waren. Sie sind der letzte Überlebende der Gründerriege. Aber wer sind die Erben?«
Strassers Augen blickten zwar hinaus in den Flur, schienen aber dennoch ins Leere zu starren.
»Wer kontrolliert Sigma jetzt?«, schrie Ben ihn an. »Nennen Sie Namen!«
»Ich kenne keine Namen.« Strasser sprach mit gebrochener Stimme weiter. »Leute wie mich stellten sie mit Geld ruhig. Wir waren nur Lakaien, denen man den Zutritt zum inneren Kreis der Macht nie gewährte. Milliarden von Dollars ist unsere Arbeit wert gewesen, aber sie haben uns mit ein paar Millionen abgespeist. Brotkrumen, die vom Tisch fallen.« Strasser verzog die Lippen zu einem angewiderten Lächeln. »Sie lassen mir regelmäßig Brotkrumen zukommen, und die wollen sie sich jetzt auch noch sparen. Sie wollen mich töten, weil sie gierig sind und mich nicht mehr bezahlen möchten. Nach allem, was ich für sie getan habe, ist ihnen meine Existenz auf einmal peinlich. Sie halten mich für gefährlich. Obwohl sie den Kontakt zu mir schon vor Jahren abgebrochen haben, glauben sie immer noch, dass ich zu viel weiß. Ich habe ihnen den Aufbau der Organisation erst ermöglicht. Und was ist der Dank? Verachtung.« Der seit Jahren aufgestaute Zorn machte sich Luft. Seine Stimme nahm einen harten, metallischen Klang an. »Sie behandeln mich wie das schwarze Schaf der Familie, wie einen stinkenden Penner. Die feinen
Pinkel putzen sich raus für das stinkfeine Symposium, und ihre größte Sorge ist, dass ich ihnen die Party versaue wie ein Stinktier den Kaffeeklatsch. Ich weiß, wo sie sich treffen. Ich bin kein ignoranter Idiot. Aber selbst wenn sie mich höflich eingeladen hätten, wäre ich nicht nach Österreich gefahren.«
Österreich.
»Worüber reden Sie?«, fragte Ben. »Wer trifft sich in Österreich? Und wo genau in Österreich?«
Strasser schaute ihn wachsam und gleichzeitig herausfordernd an. Es war klar, dass er nichts mehr sagen würde.
»Verdammt noch mal, machen Sie den Mund auf!«
»Sie sind alle gleich«, fuhr Strasser ihn an. »Sie sollten etwas mehr Respekt zeigen. Ich habe nichts mehr zu sagen.«
Anna hob plötzlich den Kopf und horchte. »Wir müssen abhauen, Ben. Sirenen.«
Ben stand
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