Das Sigma-Protokoll
sie sich die Einzelheiten ins Gedächtnis zurück. Nach etwa zwanzig Minuten war Ben davon überzeugt, dass man zwei von den falschen Namen als ziemlich sicher betrachten konnte. Peter hatte sie schon seit zwei Jahren nicht mehr verwendet. Er verstaute die entsprechenden Papiere und Kreditkarten in den geräumigen Innentaschen seiner Lederjacke.
Dann nahm er ihre Hand und schaute ihr in die klaren blauen Augen. »Danke, Liesl«, sagte er. Was für eine erstaunliche Frau sie doch war, dachte er. Sein Bruder musste sehr glücklich gewesen sein.
»Die Wunde an der Schulter verheilt schnell. Dauert nur ein paar Tage«, sagte sie. »Mit der neuen Identität wirst du wahrscheinlich länger Probleme haben.«
Liesl öffnete eine Flasche Rotwein und schenkte beiden ein Glas ein. Der Wein war hervorragend - er schmeckte voll und rund. Allmählich fiel die Anspannung des Tages von ihm ab.
Sie saßen vor dem Kamin und schauten stumm ins Feuer. Ben dachte: Wenn Peter die Sigma-Urkunde in der Hütte versteckt hat, wo konnte sie sein? Und wenn sie nicht hier war, wo war sie dann? Er hatte gesagt, sie sei an einem sicheren Ort. Hatte er sie vielleicht Matthias Deschner anvertraut? Das machte keinen Sinn: Warum sollte er sich erst die Mühe machen, ein Konto nur wegen des Schließfaches zu eröffnen, um dann die Gründungsurkunde gar nicht in dem Schließfach zu deponieren?
Warum war sie nicht in dem Schließfach gewesen?
Er zerbrach sich den Kopf über Deschner. Was hatte er bei dem Vorfall in der Bank für eine Rolle gespielt? War er ahnungslos gewesen? Oder hatte er insgeheim den Bankier darüber informiert, dass Ben illegal im Land war? Aber der Zeitablauf passte nicht: Deschner hätte das tun können, bevor man Ben zu dem Schließfach ließ. War es möglich, dass Deschner - trotz seiner Versicherung, dass das ausgeschlossen sei-das Schließfach schon vor Monaten oder Jahren ausgeräumt hatte? Und dass er die Urkunde den Verfolgern seines Bruders übergeben hatte? Andererseits war Liesl der Meinung gewesen, dass sie vollstes Vertrauen zu ihrem Cousin haben könnte... Wilde, sich widersprechende Thesen wirbelten in Bens Kopf herum, bis er schließlich unfähig war, noch einen klaren Gedanken zu fassen.
Liesl riss ihn schließlich aus seinen quälenden Grübeleien. »Etwas macht mir Sorgen - die Tatsache, dass du mich so leicht gefunden hast«, sagte sie. »Schließlich bist du -entschuldige bitte - ein Amateur. Stell dir vor, wie leicht das für einen Profi sein muss.«
Egal ob sie Recht hatte oder nicht: Ben musste sie davon überzeugen, dass sie hier sicher war. »Du darfst eins nicht vergessen, Liesl. Peter hatte mir erzählt, dass ihr beiden in einer Hütte lebt, in einem Wald, in der Nähe eines Sees. Und dass du als Kinderärztin in einem kleinen Krankenhaus im Kanton St. Gallen arbeitest. Ohne diese Informationen hätte ich dich nie gefunden.«
Sie sagte nichts, sondern starrte nur ins Feuer.
»Weißt du, wie man damit umgeht?«, fragte Ben und nickte in Richtung Tisch, auf dem der Revolver lag.
»Mein Bruder war in der Armee. Jeder Mann in der Schweiz kann schießen. Und zufällig war mein Vater der Ansicht, dass Mädchen die gleichen Rechte hätten wie Jungen. Deshalb hat er mir das Schießen beigebracht.« Sie stand auf. »Wie wär’s mit Abendessen? Wenn ich nicht bald was in den Magen kriege, verhungere ich.« Ben folgte ihr in die Küche.
Sie zündete den Propangasherd an und holte aus dem winzigen Kühlschrank ein ganzes Hähnchen, das sie mit Butter einrieb und mit getrockneten Kräutern würzte. Dann schob sie es in die Röhre. Während die Kartoffeln kochten und sie in einer Pfanne etwas Gemüse dünstete, unterhielten sie sich über ihre Arbeit und über Peter.
Schließlich zog Ben den Umschlag mit dem Foto aus der Tasche. Schon während der Fahrt hatte er sich vergewissert, dass das Wachskuvert dem Wasser standgehalten hatte. Er zeigte Liesl das Foto. »Hast du eine Ahnung, wer das ist?«, fragte er.
Sie riss die Augen auf. »O Gott, ist das dein Vater? Wie ähnlich ihr euch seid.«
»Und die anderen?«
Nach kurzem Zögern schüttelte sie den Kopf. Sie schien ernstlich beunruhigt. »Sehen aus wie wichtige Persönlichkeiten. Aber vielleicht liegt das auch an den steifen, förmlichen Anzügen, die man damals trug. Nein, tut mir Leid, die kenne ich nicht. Peter hat mir das Foto nie gezeigt, er hat mir nur davon erzählt.«
»Was ist mit der Gründungsurkunde? Hat er jemals etwas darüber gesagt,
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