Das silberne Zeichen (German Edition)
hier einmal das Rathaus untergebracht gewesen, doch Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte der Rat beschlossen, dass Aachen ein wesentlich größeres und schöneres Rathaus benötigte. Ein solches war dann gegenüber dem Dom erbaut worden, auf den Ruinen der Königshalle der ehemaligen Kaiserpfalz. Seither war das alte Gebäude zunächst als Gerichtsstätte benutzt worden und diente inzwischen als Gefängnis. Den Namen hatte es angeblich von den Grasmatten, auf denen die Häftlinge schlafen mussten. Marysas Vater hatte ihr jedoch erzählt, dass vor sehr langer Zeit an der Stelle des Grashauses ein alter Gerichtsanger gewesen sei, den man Gras genannt hatte.
Ganz gleich, woher das Gefängnis seinen Namen auch haben mochte, es war ein unwirtlicher Ort, in seinem Inneren befanden sich winzige, düstere Zellen, in denen man das schlimmste Gesindel zusammenpferchte. Marysa mochte sich gar nicht vorstellen, dass man nun auch Christoph zu jenen Schurken zählte. Sie hoffte sehr, dass es ihm einigermaßen gutging.
«Wer ist da?», knurrte ein bärtiger Wachmann. Er hatte nur den Kopf aus der Tür gestreckt und musterte Marysa fragend.
«Guten Morgen», sagte sie so würdevoll wie nur möglich. «Mein Name ist Marysa Markwardt. Ich möchte einen der Gefangenen besuchen. Meister Christoph Schreinemaker.»
«Meister?» Der Bärtige kratzte sich am Kinn und zog dann geräuschvoll die Nase hoch. «’nen Meister ham wir hier nich’.» Er stutzte. «Oder meint Ihr den Kerl, den wir gestern reinbekommen ham? Den Handwerker? Das ist ’n Meister?»
Marysa nickte. «Meister der Frankfurter Schreinerzunft und nur wegen eines Missverständnisses hier eingesperrt. Lasst mich bitte zu ihm.»
«Missverständnis, wie?» Der Wachmann trat nun ganz vor die Tür. «Davon weiß ich nix. Muss aber was Wichtiges sein, ich darf nämlich niemanden zu ihm lassen.»
«Aber ich muss zu ihm», versuchte es Marysa noch einmal und deutete auf den Korb, den Grimold bei sich trug. «Wir bringen ihm eine Decke und etwas zu essen. Außerdem …»
«Nee, wohledle Frau», unterbrach der Wachmann sie nicht unfreundlich. «Das geht nich’. Ich hab Anweisung, nichts und niemanden hier reinzulassen. Der Mann kommt heute auf die Anklagebank vor die Schöffen. Bis sie ihn befragt haben, darf niemand zu ihm.»
Marysa biss sich auf die Lippen. Das hörte sich nicht gut an. Rasch nestelte sie eine Silbermünze aus ihrem Ärmel. «Bitte, guter Mann, wir können für eine bequeme Unterbringung und ein paar Annehmlichkeiten bezahlen», sagte sie und hielt dem Wachmann das Geldstück unter die Nase.
Dieser nahm die Münze zwischen die Finger, musterte sie eingehend. Seine Augen blitzten gierig auf, dennoch gab er ihr den Taler zurück. «Tut mir leid. Ich kann Euch nich’ helfen. Kriege Ärger, wenn ich gegen den Befehl des Schöffenmeisters handele.»
Verzweiflung stieg in Marysa auf, sodass sie sich nur mit Mühe zusammenreißen konnte. «Bitte, guter Mann. Ich bin seine Verlobte. Es muss der Familie doch gestattet sein, nach Meister Schreinemaker zu sehen.»
Der Wachmann hob nur die Schultern. «Befehl is’ Befehl.»
«Wisst Ihr denn wenigstens, wann die Verhandlung vor den Schöffen stattfinden soll?», versuchte Marysa einen anderen Weg.
Wieder zuckte der Wächter mit den Achseln. «Heut’ Mittag wahrscheinlich.»
«Und danach darf ich zu ihm?»
«Weiß ich nich’. Kommt drauf an, was bei der Befragung rauskommt.» Der Wachmann verzog mitleidig die Lippen. «Tut mir wirklich leid, wohledle Frau. Ihr vergeudet hier nur Eure Zeit. Wartet doch einfach ab, was die Schöffen beschließen. Die werden Euch schon Bescheid geben.»
«Aber …» Marysa seufzte. Hier kam sie offensichtlich nicht weiter. «Also gut, ich komme später wieder», sagte sie.
«Wie Ihr wollt.» Ohne einen Gruß oder eine weitere Geste drehte sich der Wächter um und verschwand wieder im Inneren des Grashauses.
Marysa blickte Grimold ratlos an. «Und was nun?»
Der alte Knecht wechselte den schweren Korb von der rechten Hand in die linke. «Ihr solltet wirklich wieder nach Hause gehen, Herrin.»
«Und dann? Tatenlos zusehen, was passiert? Das kann ich nicht. Ich muss etwas tun, um Christoph zu helfen. Vielleicht …»
«Frau Marysa, seid Ihr das?»
Marysa fuhr herum und sah sich Rochus van Oenne gegenüber, der wie immer in Bruder Weilands Begleitung unterwegs war. Der Domherr trat mit besorgter Miene auf sie zu. «Geht es Euch wohl, Frau Marysa? Ich habe heute früh
Weitere Kostenlose Bücher