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Das silberne Zeichen (German Edition)

Das silberne Zeichen (German Edition)

Titel: Das silberne Zeichen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Schier
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waren, als es jemals Heilige gegeben hatte. Selbst wenn man einen jeden Märtyrer nach seinem Tode in winzige Einzelteile zerlegt hätte – und bei diesem Gedanken musste Marysa schmunzeln –, würde dies nicht ausreichen, die kursierende Zahl der Heiltümer auch nur annähernd zu erreichen. Wenn also jemand dennoch eine Reliquie bei ihr erstand, würde sie ihm diesen Wunsch, soweit es irgend möglich war, erfüllen, ohne Gewissensbisse dabei zu verspüren.
    Ganz ähnlich hatte Christoph über seinen früheren Ablasshandel gesprochen. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft war sie erbost darüber gewesen, denn in ihren Augen war die Ablasskrämerei wirklich eine gemeine Täuschung der Menschen. Marysa glaubte nicht daran, dass Gott, der Allmächtige, Sünden gegen eine Geldzahlung vergab. Als sie später herausfand, dass Christophs Ablassbriefe allesamt gefälscht waren, hatte ihre Abneigung zunächst zugenommen. Inzwischen sah sie ein, dass es sich mit den Ablassurkunden – ob nun echt oder gefälscht – ebenso verhielt wie mit ihren Reliquien: Es waren Symbole der Hoffnung, nicht mehr, nicht weniger.
    Dieses Argument würde allerdings weder vor dem Schöffen- noch vor dem Stiftsgericht standhalten. Für die einen war es schlicht Betrug, für die anderen Blasphemie und Ketzerei. Genügend Gründe, Christoph dem Henker zu übergeben. Doch so weit würde es nicht kommen. Sie wollte alles in ihrer Macht Stehende tun, um Christoph aus dem Gefängnis herauszuholen.
    Was, außer Abwarten, bis der Bote aus Frankfurt zurückkehrte, konnte sie tun? Zögernd stand Marysa wieder auf und verließ ihre Kammer. Im Haus war es zu dieser späten Stunde sehr still. Das Gesinde schlief bereits tief und fest. Nicht mehr lange, bis die Glocken der Kirchen und des Domes die Mitternacht verkünden würden.
    Mit der Öllampe, die immer auf der Truhe neben ihrem Bett stand, ging Marysa hinüber zu der Gästekammer, in der Christoph im vergangenen Herbst genächtigt hatte. Dorthin hatte sie seine Habseligkeiten aus der Herberge bringen lassen. Bisher hatte sie lediglich die Werkzeugkiste geöffnet sowie das Bündel mit den Zinnbechern durchgesehen. Alle anderen Gepäckstücke lagen unberührt auf dem Bett.
    Marysa betrachtete die ordentlich verschnürten Bündel im flackernden Schein des Lämpchens. Sie stellte es vorsichtig auf der Werkzeugkiste ab und griff nach einem der Gepäckstücke. Vorsichtig öffnete sie die Verschnürung und rollte den Stoff auseinander. Es handelte sich, wie sie erst jetzt bemerkte, um einen Mantel.
    Sie hielt kurz den Atem an. Es war die Houppelande ihres Vaters! Sie hatte Christoph diesen wärmenden Mantel einst auf seine Reise mitgegeben. Damals hatte sie geglaubt, ihn nie wiederzusehen – nein, ihn nie wiedersehen zu wollen!
    Wie lange war das her? Nicht einmal zwei Jahre, wurde ihr bewusst. Wie viel war seither geschehen! Sie vergrub ihr Gesicht in die Wolle und meinte, Christophs Geruch wahrzunehmen. In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß. Sie sehnte sich nach ihm. Niemals hätte sie gedacht, dass ihr einmal ein Mann begegnen würde, der solch tiefe Gefühle in ihr auslösen würde. Und hätte ihr jemand gesagt, dass dieser Mann ausgerechnet einer der größten Betrüger und Gauner unter Gottes Sonne sein würde, sie hätte es nicht geglaubt.
    Kurz wanderten ihre Gedanken zu ihrem Bruder Aldo, der nun schon lange tot war. Sein Grab würde sie nie besuchen können – es befand sich auf einem kleinen Friedhof in der Nähe der Stadt Pamplona. Aldo war es gewesen, der Christoph zu ihr nach Aachen geschickt hatte. Was hatte er wohl dabei im Sinn gehabt? Aldo war zwar sieben Jahre älter als sie, doch er war immer ihr bester Freund gewesen. Ausgerechnet einen Ablasskrämer – noch dazu einen falschen – hatte er ausgesandt, sich um sie zu kümmern.
    Seufzend legte sie den Mantel wieder zusammen und griff nach dem Beutel, der beim Auseinanderfalten des Kleidungsstücks aufs Bett gefallen war. Sie wünschte, sie könnte ihrem Bruder danken … und ihn heftig dafür schelten, dass sie nun wegen ihm so tief in Schwierigkeiten steckte.
    Sie löste die Verschnürung des Beutels und hielt im nächsten Moment ein silbernes Pilgerabzeichen in der Hand, das mit einer Öse an einer einfachen Silberkette befestigt war. Sie traute ihren Augen kaum. Die Gravur zeigte eindeutig den Aachener Dom und ähnelte bis ins Detail jenem Abbild, das sich auf den Abzeichen befand, die van Oenne für ihre Reliquiare anfertigen

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