Das silberne Zeichen (German Edition)
leises Keuchen.
«Herrin, wo seid Ihr?»
Sie trat aus dem Schatten und atmete auf, da Milo tatsächlich eine Leiter gefunden hatte. Er lehnte sie unterhalb des besagen Fensters gegen die Wand des Grashauses und wollte hinaufsteigen.
Marysa hielt ihn zurück. «Lass mich», raunte sie. «Du hältst Ausschau, ob jemand kommt.»
«Aber Herrin!»
Marysa winkte ungeduldig ab. Sie nahm Milo die Fackel aus der Hand und begann mit dem Aufstieg. Ihre weiten Röcke machten das Klettern nicht gerade einfach. Zum Glück war sie als Kind sehr oft mit einer Leiter in die Kronen der Obstbäume ihres Elternhauses geklettert, sodass sie genau wusste, was sie tat.
Als sie hoch genug war, um in das Fenster hineinzusehen, hielt sie inne. Zunächst dachte sie, die winzige Zelle sei leer, doch dann erkannte sie Christoph, der sich unter einer Decke auf einer dünnen Grasmatte zusammengerollt hatte und offenbar schlief.
«Herrin, seid bloß vorsichtig!», kam ein besorgtes Flüstern von Milo. «Was, wenn Ihr herunterfallt? Eine Frau sollte nicht auf Leitern steigen.»
Marysa machte nur eine abwehrende Handbewegung und blickte erneut in die Zelle hinein. «Christoph?», flüsterte sie. «Christoph, wach auf!»
Unter der Decke bewegte sich Christoph leicht, dann fuhr er plötzlich erschrocken hoch.
«Wer ist da?» Er blinzelte, weil ihn das Licht zu blenden schien. Sogleich senkte Marysa die Fackel ein wenig. «Ich bin es, Christoph», flüsterte sie.
«Marysa?» Mit zwei Schritten war er am Fenster und umfasste ihre Hand, mit der sie sich am Fenstergitter festhielt. «Was tust du denn hier?» Verwirrt strich er sich das zerzauste Haar zurück. «Bist du verrückt? Du kannst nicht einfach an der Fassade des Gefängnisses emporklettern!»
«Ach nein?» Marysa entzog ihm ihre Hand und streckte sie stattdessen durch das Gitter, um seine Wange zu berühren. Unter ihren Fingerspitzen spürte sie Bartstoppeln. «Ich muss dringend mit dir sprechen. Es gab keinen anderen Weg.»
«Aber wenn uns jemand sieht …»
«Milo hält unten Wache», erklärte Marysa.
«Woher weißt du, wo meine Zelle …» Christoph lächelte unvermittelt. «Amalrich, nicht wahr?»
«Er hat vor dem Zunfthaus auf mich gewartet», bestätigte Marysa. «Es gab heute eine Versammlung und da …»
«Ich weiß.» Christoph nahm erneut ihre Hand. «Amalrich sagte etwas davon, dass sie dich befragen wollten.»
«Befragen, ha!» Marysa verzog spöttisch die Lippen. «Hartwig hätte mich am liebsten gleich der Zunft verwiesen.»
«Was?» Christoph war entsetzt, doch Marysa winkte ab.
«Vergiss es, das ist jetzt nicht so wichtig.»
«Nicht wichtig? Ich höre wohl nicht recht. Wenn dein Vetter …»
«Hör mir zu!», unterbrach Marysa ihn. «Hartwig ist jetzt nicht unser Problem.»
«Du hast recht.» Christoph nickte. «Jacobus von Moers ist es, und ich bin froh, dass du hier bist. Vielleicht kannst du etwas unternehmen.»
«Bruder Jacobus, der Inquisitor? Was ist mit ihm? Er ist doch derzeit gar nicht in der Stadt.»
«Eben. Amalrich erzählte mir, dass Jacobus die Stadt gen Süden verlassen hat – just nachdem du den Boten nach Frankfurt geschickt hast.»
«Das weiß er?»
«Es kann ein Zufall sein, dass Jacobus dieselbe Richtung eingeschlagen hat. Wenn nicht …»
«Du meinst, er ist dem Boten gefolgt?» Marysa schluckte. «Das würde ja bedeuten … O Gott, glaubst du, er hat etwas mit deiner Verhaftung zu tun?»
Christoph zuckte mit den Schultern. «Ich denke, wir sollten ihm lieber nicht trauen.»
«Wir können derzeit niemandem trauen», erwiderte Marysa betrübt. «Außer meinen Eltern.»
«Und deinem Gesinde.»
«Hoffentlich.» Sie holte tief Luft. «Was soll ich jetzt tun? Ich habe Leynhard bereits hinter dem Boten hergeschickt. Er müsste ihn inzwischen erreicht haben. Zu zweit werden sie bestimmt wachsam genug sein, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten, oder?»
«Das können wir nur hoffen. Verdammt!» Christoph umfasste wütend das Fenstergitter. «Wenn ich nur selbst etwas tun könnte. Hier eingesperrt zu sein, macht mich rasend! Und alles nur, weil ich so dumm war, die Urkunden unbeaufsichtigt in der Herberge liegenzulassen!»
«Psst!» Erschrocken umfasste Marysa sein Handgelenk, und sofort verstummte er. «Es ist nicht dein Fehler», flüsterte sie. «Du konntest nicht wissen, dass dir jemand nachstellt und die Tasche stiehlt.»
«Ich hätte damit rechnen müssen.»
«Aber weshalb denn?» Marysa suchte seinen Blick.
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