Das silberne Zeichen (German Edition)
nicht mehr ändern. Und ihr ist ja schließlich nichts passiert, oder?»
«Ich glaube nicht, dass uns jemand gesehen oder belauscht hat», antwortete Marysa.
«Das dachtet ihr damals auch nicht», gab Bardolf zu bedenken. «Wer auch immer Christoph ins Gefängnis gebracht hat – er scheint seine Augen und Ohren überall zu haben.»
***
Als ihn die ersten Regentropfen trafen, unterdrückte Jacobus von Moers einen Fluch. Missmutig blickte er auf die Leiche zu seinen Füßen. Wilde Tiere hatten die Erde über ihr fortgescharrt und sich an dem Fleisch des Toten gütlich getan. Das Gesicht des Ermordeten war noch deutlich erkennbar.
Jacobus nahm die Schaufel zur Hand und begann, ein tieferes Grab auszuheben. So konnte er den Toten nicht hier liegen lassen. War es ein Glücksfall, dass ihn eine durch eine Herde Schafe versperrte Straße auf dem Rückweg von Frankfurt dazu gebracht hatte, durch diesen dichten Forst zu reiten? Wäre er dem Hauptweg gefolgt, hätte er niemals bemerkt, was die Raubtiere hier angerichtet hatten. Wobei das schlimmste Raubtier wohl jenes auf zwei Beinen war. Da schloss er sich selbst keinesfalls aus. Auch er befand sich gewissermaßen auf einem Beutezug. Das wichtigste Gut – drei vom Frankfurter Rat kopierte und gesiegelte Urkunden – befand sich bereits in seinem Besitz. Nun galt es, rasch und unauffällig zurück nach Aachen zu gelangen.
Jacobus umfasste den Stiel der Schaufel fester und knirschte mit den Zähnen. Das Graben war anstrengend. Seine Handflächen würden am Abend von Blasen übersät sein. Er nahm es hin, als Buße, wie er sich sagte. Gewiss war dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man bedachte, welche Schuld er auf sich geladen hatte. Der Verlust von Menschenleben war mit ein paar blutigen Schwielen ganz sicher nicht gesühnt. Doch um solche Spitzfindigkeiten wollte er sich jetzt keine Gedanken machen.
Als das Loch seiner Meinung nach endlich tief genug war, zerrte er die Überreste des Toten hinein. Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht und brannte in seinen Augen. Dennoch gönnte er sich keine Pause. Die Zeit drängte. Leider wurde nun auch der Regen stärker und machte ihm die Arbeit noch schwerer. Schaufel um Schaufel ließ er die Erdbrocken auf die Leiche prasseln. Mehrmals wäre er auf dem glitschigen Boden beinahe ausgerutscht und ebenfalls in die Grube gefallen. Sein ehemals weißes Habit war von schlammigen Flecken übersät, seine Füße in den ledernen Sandalen, die ihn sein Stand zu tragen verpflichtete, waren durchnässt und fühlten sich an wie Eiszapfen, obgleich der Rest seines Körpers in der kalten Luft geradezu dampfte.
Endlich hatte er es geschafft. Schwer atmend blickte er auf das einsame Grab inmitten von Büschen und Laubbäumen. Für Reue hatte er weder Anlass noch Zeit, rief er sich ins Gedächtnis. Wichtiger war es, auf dem schnellsten Weg sein Ziel zu erreichen. Man erwartete ihn in Aachen; ohne ihn würde das Stiftsgericht den Prozess gegen den Schreinemaker nicht beginnen.
Er band sein Reittier los, stieg auf und lenkte es auf den schmalen Waldweg, der sonst vermutlich nur von den Bauern benutzt wurde, die Pilze oder herabgefallene Äste einsammelten oder verbotenerweise Schlingen auslegten, um ihr kärgliches Mahl gelegentlich durch einen saftigen Hasenbraten aufzubessern.
Hoffentlich fand er vor Einbruch der Nacht einen trockenen Unterschlupf. Die Herbergen würde er heute lieber meiden. Auch musste er achtgeben, dass der Regen die Urkunden nicht durchweichte. Das wäre zu schade. Er wollte sie schließlich noch verwenden, sobald er nach Aachen kam. Sie würden ihm helfen, eine alte Rechnung zu begleichen.
***
Marysa saß in ihrem Kontor und schob nervös die kleinen grünen Rechensteine an ihrem Abakus hin und her. Es war ungewöhnlich ruhig im Haus, denn weder Heyn noch Leynhard waren wieder zurückgekehrt. Je mehr Zeit verging, desto größer wurde Marysas Sorge. Hoffentlich war Leynhard nichts zugestoßen. Im Nachhinein ärgerte sie sich, dass sie ihren Gesellen hinter dem Boten hergeschickt hatte. Sie hätte tatsächlich gleich einen bewaffneten Reiter damit beauftragen sollen.
Es konnte nicht mehr lange dauern, bis man den Prozess gegen Christoph eröffnete. Milo und Jaromir, die am Morgen mit dem Holzkarren unterwegs gewesen waren, hatten berichtet, dass sie vor van Oennes Wohnhaus in der Domimmunität dessen Reisewagen gesichtet hatten. Also war der Domherr von seiner Reise zurückgekehrt. Ganz sicher würde
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