Das silberne Zeichen (German Edition)
verbeugte er sich und war im nächsten Moment in einer Seitengasse verschwunden.
Marysa blickte ihm verblüfft nach, dann drehte sie sich zu Milo um, der noch immer hinter ihr stand und inzwischen eine Pechfackel an der Leuchte neben dem Eingang des Zunfthauses entzündet hatte. «Komm, wir gehen zum Grashaus», sagte sie knapp.
«Aber Herrin, es ist spät und nicht sicher für Euch», protestierte der Knecht. «Zu nächtlicher Stunde treibt sich allerhand Gesindel in den Straßen herum.»
«Deshalb begleitest du mich ja», antwortete sie lapidar und ging entschlossen los.
Milo beeilte sich, zu ihr aufzuschließen. «Dass gefällt mir nicht», murmelte er. «Ich könnte auch allein zum Grashaus gehen und mit dem Meister reden.»
Marysa reagierte nicht. Ohne zu zögern, schlug sie den direkten Weg zum Gefängnis ein. Weit war es nicht. Als sie das düstere Gebäude erreichte, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Dass sie nicht früher auf den Gedanken gekommen war, mit Christoph auf diese Weise zu sprechen! Sie musste nur vorsichtig sein.
Prüfend sah sie zu den vergitterten Fenstern hinauf. Hinter keinem von ihnen brannte Licht. Natürlich nicht. Die Gefangenen besaßen keine Fackeln oder Lampen in ihren Zellen. Sie überlegte gerade, ob sie es wagen sollte, Christophs Namen zu rufen, als sie von irgendwo Schritte vernahm. Rasch zog sie sich in eine dunkle Ecke zurück und lauschte. Sie hörte die Stimmen zweier Männer, die in der Nähe vorbeigingen. Danach war alles wieder still.
«Herrin, was wollt Ihr jetzt tun?», flüsterte Milo. «Ihr könnt hier nicht unter dem Zellenfenster stehen und einfach hochrufen. Das hört bestimmt jemand.»
«Du hast recht», sagte sie ebenso leise. «Geh und such mir eine Leiter.»
«Eine Leiter?», fragte der Knecht verwundert.
Marysa nickte nachdrücklich. «Schau beim Dom nach. Dort wird derzeit noch immer an zwei der Kapellen gearbeitet. Oder bei der Kirche. Auch dort gibt es eine Baustelle.»
«Ich kann doch nicht einfach eine Leiter stehlen!»
«Wir leihen sie uns nur aus, Milo. Lauf schon, ich möchte nicht die ganze Nacht hier verbringen.»
«Ich kann Euch nicht allein lassen. Das ist viel zu gefährlich.»
«Nun tu schon, was ich dir sage», zischte Marysa gereizt. «Ich verberge mich so lange hier im Schatten.» Zum Beweis zog sie sich hinter die Hausecke zurück und war so von der Straße aus nicht mehr zu sehen.
Milo seufzte resignierend. «Das gefällt mir nicht», brummelte er noch einmal, rannte jedoch gehorsam los in Richtung der Baustelle beim Dom.
Marysa trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Es war empfindlich kühl an diesem Abend. Nebel legte sich wie ein feuchter Film auf Haut und Kleidung. Sie rieb ihre Hände aneinander und überlegte, ob sie Christoph von den Ereignissen des Abends berichten sollte. Hartwig hatte sich in ihren Augen unmöglich aufgeführt. Vor der gesamten Zunftversammlung hatte er sie aufgefordert, sich von Christoph Schreinemaker loszusagen. Sogar mit dem Ausschluss aus der Zunft hatte er ihr gedroht. Glücklicherweise hatten einige der anderen Schreinbauer laut dagegen protestiert. Wieder und wieder hatte sie versucht zu erklären, dass es sich bei Christoph nicht um jenen Ablasskrämer handelte, der im vergangenen Jahr in Aachen geweilt hatte, sondern um dessen Bruder. Sie seufzte. Wenn sie die Geschichte noch öfter erzählen müsste, würde sie vermutlich bald selbst daran glauben.
Hartwig hatte sie ein dummes Weib gescholten, das aus Gefühlsduselei auf die Lügengeschichten eines Scharlatans hereingefallen sei. Irgendwann hatten die anderen Zunftmitglieder begonnen, auch Fragen zu stellen. Sie war sich beinahe wie in einer Gerichtsverhandlung vorgekommen. Doch war sie sich ganz sicher, dass wenigstens die Hälfte der anwesenden Zunftmeister ihr geglaubt hatte. Vor allem diejenigen, die sie seit ihren Kindertagen kannten. Fast alle waren mit ihrem Vater gut befreundet gewesen und wussten um die Querelen zwischen ihm und dem Sohn seines Halbbruders. Deshalb hatten sie Hartwig schließlich dazu gebracht, sich so weit zu beruhigen, dass Marysa die gesamte Geschichte noch einmal erzählen konnte. Nun waren sie ähnlich verblieben wie die Schöffen – man würde abwarten, bis der Bote die Urkunden aus Frankfurt brachte.
Marysa wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dies bald – möglichst schon morgen – der Fall sein würde. Sie zuckte heftig zusammen, als sie das Knirschen von Schuhsohlen vernahm, dann ein
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