Das silberne Zeichen (German Edition)
sein, weil sie es musste. Doch nachts erlaubte sie sich all jene Gefühle, die sie sich bei Tageslicht verbot. Sie sehnte sich nach Christoph und betete inbrünstig zur Muttergottes, dass er bald freikam. Es war vermessen, ausgerechnet die Heilige Maria in dieser Sache um Hilfe zu bitten, und wie widersinnig. Immerhin betrogen sie mit Christophs Plan nicht nur die Menschen, sondern gewissermaßen auch die himmlischen Mächte. Soweit man diese überhaupt betrügen konnte.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf Marysas Lippen. Vielleicht war es ja auch so, dass Gott und sein eingeborener Sohn, die Jungfrau Maria und alle Heiligen sich gar nichts daraus machten, dass Christoph in ihrem Namen Ablässe verkauft hatte. Und scherte es einen der Märtyrer wirklich, ob Marysa mit dem Verkauf von falschen Barthaaren und in Schreinen verborgenen Knochensplittern gutes Geld verdiente? Immerhin verteilte sie jeden Sonntag so viele Almosen wie kaum ein anderer Bürger Aachens. Das hatte bereits ihr Vater so gehalten, und sie fand, dass sie damit der Gerechtigkeit ausreichend Genüge tat.
Niemand wurde gezwungen, eine Reliquie oder einen Ablassbrief zu erwerben. Die Menschen taten es freiwillig. Solange Christoph als Ablasskrämer herumgezogen war, hatte ihn jedenfalls nicht der Blitzstrahl eines zornigen Gottes getroffen. Vielmehr kam es Marysa so vor, als sei er all die Jahre von einem besonderen Glücksstern begleitet worden, nachdem ihm in jungen Jahren das Schicksal auf so schlimme Weise mitgespielt und ihm Eltern und Heim genommen hatte.
Natürlich waren diese Gedanken reinste Ketzerei. Nie würde Marysa sie über die Lippen bringen. Vermutlich war es ihr vorherbestimmt gewesen, sich in einen Mann wie Christoph zu verlieben. Dass sie ihn anfangs nicht hatte leiden können, rührte, im Nachhinein betrachtet, wohl daher, dass sie einander ähnlicher waren, als sie damals hatte zugeben wollen.
Marysa starrte in die Dunkelheit ihrer Kammer. Ketzer oder nicht, sie musste Christoph irgendwie aus dem Gefängnis rausholen.
***
Offenbar war Marysa doch eingenickt, denn sie schreckte hoch, als unten auf der Straße eine Katze aufkreischte. Irgendwo fiel ein Eimer um und kullerte über den steinigen Boden. Verwirrt blickte Marysa sich um. Zunächst war alles wieder still, doch dann vernahm sie von ferne ein leises Schnauben ihrer Pferde. Ihr Herz schlug schneller. Leise stand sie auf, öffnete dann, sehr vorsichtig, den Fensterladen ein Stückchen weiter.
Schlich dort unten oder hinten im Hof jemand herum? Ein flaues Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit. Vielleicht sollte sie die Knechte wecken und nach dem Rechten sehen lassen.
Wieder vernahm sie das unruhige Schnauben eines der Pferde. Entschlossen zog sie sich vom Fenster zurück und tastete nach ihren Schuhen. Sie schlüpfte hinein, warf sich ihren Hausmantel über und verließ auf Zehenspitzen ihre Schlafkammer. Die Treppe knarrte unter ihren Fußsohlen, sie bewegte sich sehr langsam und vorsichtig. Wer auch immer da draußen war, er sollte nicht merken, dass jemand im Hause aufmerksam geworden war. Wenn sie jetzt ihr Gesinde weckte, würde das unweigerlich Aufruhr bedeuten und den Eindringling verscheuchen. Sollte es sich tatsächlich um einen Einbrecher handeln, konnte sie immer noch um Hilfe rufen.
Allmählich hatten sich Marysas Augen an die Finsternis gewöhnt, sodass sie sich einigermaßen sicher im Haus bewegen konnte. Zuerst ging sie in die Küche und holte sich den Schürhaken von der Feuerstelle. Dann schlich sie zur Hintertür, schob den Riegel zurück und öffnete sie einen winzigen Spaltbreit. Draußen war es nun vollkommen still. Erst nach einigen Augenblicken hörte sie wieder Geräusche aus dem Stall. Die beiden Pferde schienen nervös zu sein.
Marysa lauschte in die Nacht, wollte sich schon wieder zurückziehen, als sie ein leises Schleifen und Schritte vernahm. Sie umfasste den Griff des schweren Schürhakens fester und trat beherzt in den Hof hinaus. Es war kühl, der Wind trieb Wolken über den Himmel, die den zu drei Vierteln gerundeten Mond immer wieder verdeckten. Trotzdem spendete er ein wenig Licht im Vergleich zur absoluten Dunkelheit im Haus.
Hatte sich dort bei der Laube etwas bewegt? Vorsichtig machte Marysa zwei Schritte vorwärts, dann sah sie den Schatten, der sich in Richtung Haus bewegte.
«Halt!», sagte sie halblaut, jedoch mit so viel Autorität in der Stimme, wie es ihr möglich war. «Wer bist du, und was sucht du hier?»
Die
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