Das silberne Zeichen (German Edition)
auch ihr der Prozess gemacht werden kann.»
Unter den anwesenden Schöffen kam erregtes Gemurmel auf.
Der Domherr stand von seinem Sitzplatz auf und trat empört auf Volmer zu. «Das ist es, was Ihr glaubt?»
«Das ist, was bald ganz Aachen glauben wird.»
«Wie engstirnig seid Ihr eigentlich, Meister Volmer? Denkt Ihr wirklich, eine Frau wie Marysa Markwardt, aus behütetem Hause, Tochter des angesehensten und bekanntesten Reliquienhändlers, den Aachen je zu seinen Bürgern zählen durfte, läuft so einfach bei Nacht und Nebel davon? Allein? Ohne Geld, Gepäck und Schutz?»
«Vielleicht war ihre Angst, verurteilt zu werden, größer als ihre Furcht vor der Dunkelheit der Nacht.»
Zischend sog van Oenne die Luft ein und bemühte sich sichtlich um Fassung. «Fast könnte man meinen, Ihr würdet diesen Umstand begrüßen, Meister Volmer. Aber ich versichere Euch, dass Ihr Euch gewaltig irrt. Weder Marysa noch Meister Schreinemaker haben eine Verurteilung zu befürchten.»
«Ach nein?»
«Nein, denn es gibt Beweise, die die Herkunft Schreinemakers eindeutig klären.»
«Legt sie uns vor», forderte van Eupen.
«Keine Sorge, das werde ich», fuhr van Oenne ihn an. «Zunächst müssen wir dafür sorgen, dass Frau Marysa aus den Fängen ihres Entführers befreit wird. Falls es nicht schon zu spät ist.»
«Wer in aller Welt soll denn dieser Entführer sein?», fragte einer der anderen Schöffen.
Der Domherr hob den Kopf. «Zunächst dachten wir, es könne womöglich ihr Vetter, Meister Schrenger, sein.»
Protestgemurmel wurde laut. Van Eupen klopfte erneut auf den Tisch. «Meister Schrenger?», fragte er erstaunt. «Wie kommt Ihr ausgerechnet auf ihn? Er ist ein angesehener Mann, oberster Greve der Schreinerzunft.»
«Und derjenige, der den Schreinemaker überhaupt erst angeklagt hat, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, seine Herkunft nachzuweisen», ergänzte van Oenne. «Glaubt mir, es gab einige Anzeichen, die auf ihn hindeuteten. Aber er kann mit Marysas Verschwinden nichts zu tun haben, da er sich zur fraglichen Zeit vor Zeugen in seinem eigenen Hause aufhielt.» Er räusperte sich. «Und davor, ebenfalls in Gesellschaft von Zeugen, in einem Dirnenhaus in Burtscheid.»
Reimar van Eupen verschränkte die Arme vor der Brust. «Wen also verdächtigt Ihr?»
Van Oenne schwieg wieder kurz. «Wir sind nicht sicher. Der einzige Mann, der ebenfalls seit einer Weile nicht auffindbar scheint, ist Gort Bart, Meister Schrengers Geselle. Frau Marysa hat im vergangenen Herbst seinen Heiratsantrag abgelehnt, wie Ihr sicher wisst.»
«Und Ihr glaubt, deshalb hat er sie jetzt entführt? Das ergibt keinen Sinn», entgegnete Volmer.
«Ich glaube nicht, ich kann nur vermuten», sagte van Oenne. «Wenn Ihr einen Moment darüber nachdenkt, ergibt es sehr wohl einen Sinn. Dann nämlich, wenn Ihr in Erwägung zieht, dass Gort aus Kränkung gehandelt hat und sich sowohl an Marysa, die ihn abgewiesen hat, als auch an Meister Schreinemaker, der ihn bei ihr ausgestochen hat, rächen will.»
«Einen Augenblick mal!» Verwirrt hob van Eupen die Hand. «Verstehe ich das richtig? Ihr verdächtigt den Mann, die Ereignisse der vergangenen Wochen absichtlich herbeigeführt zu haben, indem er …»
«Indem er Meister Schreinemakers Urkunden gestohlen und dann Hartwig Schrenger von der Ähnlichkeit Christoph Schreinemakers mit dem Ablasskrämer Christophorus berichtete. Weiß Gott, was er ihm sonst noch eingeflüstert hat», fuhr van Oenne eindringlich fort. «Ihr wisst, dass Schrenger seiner Cousine nicht in inniger Freundschaft verbunden ist. Und Ihr kennt sein aufbrausendes Gemüt. Die rechten Worte zur rechten Zeit mögen ausgereicht haben, um ihn so sehr gegen den Schreinemaker aufzubringen, dass es zu der Anklage kam. Ihr wisst sehr genau, dass Schrenger schon zu Lebzeiten seines Onkels versucht hat, dessen Werkstatt und den Reliquienhandel in seine Hand zu bekommen. Nach dem Tod des alten Herrn und dessen Sohnes habt Ihr, wie ich sehr wohl erfahren habe, mehrfach über Schrengers Klage gegen die Familie Markwardt beraten. Besonders nachdem bekannt wurde, dass Marysa den Antrag von Reinold Markwardt angenommen hatte.» Eine kurze Weile ließ van Oenne seine Worte wirken. Er erkannte an den Mienen einiger Schöffen, dass sie ins Grübeln kamen. «Nach Reinolds Tod versuchte Schrenger erneut, Gewalt und Munt über Marysa zu erhalten. Mit allen Mitteln wollte er sie dazu bringen, Gort zu ehelichen, der mütterlicherseits mit
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