Das Skript
dass sie bisher erschreckende Parallelen, aber auch einen gravierenden Unterschied festgestellt hatten: Anders als im realen Fall schickte der Täter in Jahns Krimi das erste Päckchen mit dem makabren Inhalt nicht an eine Studentin, sondern an eine Tageszeitung. »Und auch alle weiteren Päckchen landen in der Redaktion«, fügte Diederich hinzu.
»Alle weiteren Päckchen?« Erdmann sah ihn fassungslos an.
»Ja, der Täter hält gleichzeitig mehrere Frauen gefangen, um immer an genügend Haut zu kommen. Es ist ekelhaft!«
»Das bedeutet, er hat nicht nur Heike Kleenkamp und zuvor die Tote, die wir heute Morgen gefunden haben, in seiner Gewalt, sondern wahrscheinlich noch weitere Frauen?«
»Ja, es sieht danach aus. Leider.« Diederich stockte. »Die Zahlen auf der Stirn des Opfers, eins bis zwei, bedeuten übrigens, dass auf der Haut der Frau die Kapitel eins und zwei geschrieben werden«, fuhr er dann fort.
»Und wie ist das bei Heike Kleenkamp?«, fragte Matthiessen.
»Wie es aussieht, ist sie für den Titel und die Kapitelnummern vorgesehen.«
»Kapitelnummern?«
»Ja. Eine Eins, eine Zwei und so weiter. Jede Kapitelnummer steht auf einer eigenen
Seite
.«
»Mein Gott, wer denkt sich so was aus. Wie ist das im Buch, lebt das Pendant zu Heike Kleenkamp da zu diesem Zeitpunkt noch?«
»Ich bin nicht sicher, wir sind noch nicht so weit, aber laut Roman tötet er diese Frau nicht sofort, sondern entfernt ihr immer nur dann ein Stück Haut vom Rücken, wenn er bald ein neues Kapitel beginnt.«
»Er … er häutet sie bei lebendigem Leib?« Matthiessen sah Diederich ungläubig an, doch der nickte mit betroffener Miene. »Mein Gott … Wir müssen diesen Irren stoppen. Schnellstmöglich.« Sie ließ sich Adresse und Telefonnummer des Schriftstellers geben und bat darum, sofort angerufen zu werden, falls es wichtige neue Erkenntnisse gab. Dann verließ sie zusammen mit Erdmann das Gebäude, um sich auf den Weg zu Christoph Jahn zu machen. Erst hatte sie vorher bei ihm anrufen wollen, um sicherzugehen, dass er zu Hause war, aber Erdmann hatte sie davon überzeugt, dass es von Vorteil sein konnte, Jahn nicht auf ihren Besuch vorzubereiten. So würden sie seine spontane Reaktion sehen können, wenn er erfuhr, dass Jahre nach dem ersten Fall nun wahrscheinlich ein weiterer seiner Romane als Vorlage für ein Verbrechen diente.
Volksdorf, das aufgrund seines Baumreichtums auch als eines der
Walddörfer
bezeichnet wurde, war knappe 15 Kilometer vom Hamburger Polizeipräsidium entfernt. Nach einer guten halben Stunde im Stadtverkehr, während der sie nicht viel sprachen, waren sie vor dem gepflegten, weiß verputzten Einfamilienhaus, das etwas zurückgesetzt in einer ruhigen Straße stand und von einer hohen Kirschlorbeerhecke umgeben war, angekommen. Erdmann parkte den Wagen am Straßenrand, dann betraten sie das Grundstück durch ein breites, schmiedeeisernes Tor, dessen beide Flügel einladend offen standen. Von dem gepflasterten Weg, der zu der Garage rechts neben dem Haus führte, zweigte etwa in der Mitte ein schmalerer Pfad in Richtung Haustür ab, der Rasen zu beiden Seiten leuchtete in einem für die Jahreszeit außergewöhnlich saftigem Grün. Kreisrunde Inseln erstrahlten im kräftigen Gelb der blühenden Osterglocken, die sich um Rhododendren gruppiert dem Himmel entgegenreckten. Erdmann drückte auf den mit einer runden Messingscheibe eingefassten Klingelknopf rechts neben der massiven Holztür. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis geöffnet wurde. Die Frau mochte Ende vierzig sein. Sie hatte dunkles, leicht gewelltes Haar, das ihr bis auf die Schultern reichte und von silbrigen Strähnen durchzogen war. Sie trug eine strahlend weiße Schürze mit Spitzen an den Rändern über einem dunklen Kleid, ihr rundliches Gesicht war kaum geschminkt. Erdmann dachte, dass eine Haushälterin genau so aussehen musste. Mit einer Mischung aus Freundlichkeit und Neugier sah sie sie an. »Ja, bitte?« Matthiessen stellte sich und Erdmann vor und fragte, ob Christoph Jahn zu sprechen war. »Ja, er ist zu Hause.« Sie trat zur Seite und gab den Eingang frei. »Bitte, kommen Sie doch herein. Sind Sie hier, um mit ihm über seinen neuen Roman zu sprechen?«
Matthiessen tauschte einen schnellen Blick mit Erdmann und sagte: »Nein, es geht um was Dienstliches.«
Die Frau führte sie durch eine kleine Diele in ein etwa 50 Quadratmeter großes Wohnzimmer, dessen Hinterseite fast komplett aus Glas bestand und einen
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