Das Sonnentau-Kind
und Wencke Tydmers durch den Spalt schlüpfte wie eine Schülerin, die sich verspätet hatte. Deswegen vielleicht auch sein oberlehrerhafter Ton.
Alle schauten in Wenckes Richtung.
«Ich dachte, du hättest Feierabend», sagte Meint Britzke. Greven murmelte etwas von Doppeltbelastung. Die anderen Kollegen lächelten Wencke mitleidig an. Es war nicht zu übersehen: Sie alle mochten Wencke Tydmers, sie alle genossen ihre Gegenwart, sie alle brachten ihr in diesem Moment mehr Sympathien entgegen, als es ihm, Axel Sanders, in der ganzen Zeit der Schwangerschaftsvertretung zuteil geworden war. Und dabei hatte er sich so um ein kollegiales und vertrauensvolles Verhältnis bemüht. Was hatte diese rothaarige, kleine, oftmals so chaotische Frau, was er nicht hatte?
«Entschuldigt, aber mir ging diese Sache mit dem Jungen in der Scheune nicht aus dem Kopf», sagte Wencke. Sie trug schon seit Jahren diese Jeansjacke, verwaschen und fleckig hing sie auf ihren schmalen Schultern. Axel Sanders hatte gedacht – und gehofft –, dass sie den alten Lappen nach der Geburt ihres Sohnes endlich zum Roten Kreuz geben würde, vorausgesetzt, die würden das Teil überhaupt nehmen. Doch entgegen seiner Hoffnung hatte Wencke sich die Jacke wieder angezogen, kaum dass sich die Knöpfe nach der Entbindung über dem Bauch hatten schließen lassen. Sie war auch als Mutter ganz die Alte geblieben, keine Spur von Reife und Fraulichkeit, sie war immer noch irgendwie niedlich, ruhelos und mit dem Kopf in den Wolken. Manchmal ertappte Axel Sanders sich dabei, dass er sich darüber freute. Was wäre passiert, wenn Wencke sich verändert hätte?
Und nun kam sie hierher, obwohl sie eigentlich schon zu Hause bei Emil sein müsste, und mischte den Laden auf. Gleich beim ersten Fall brachte sie seine Ordnung durcheinander.
«Liebe Wencke», begann er.
Meint Britzke schob sich dazwischen. «Wir habe bereits Riegers Ergebnisse aus Oldenburg. Alles spricht für Selbstmord.» Er schob die drei Blätter des vorläufigen Untersuchungsprotokolls und den gefaxten Bericht der Rechtsmedizin über den blank gewienerten Tisch.
Wencke nahm die Papiere, überflog sie hastig und ließ sich kopfschüttelnd auf einen freien Stuhl sinken. «Nein, ich glaube das nicht!»
Erst war es still im Kreise der Kollegen. Greven lachte als Erster. Erst leise und glucksend, doch als Strohtmann, der eher selten aus sich herausging, ebenfalls zu kichern anfing, konnte sich keiner mehr halten. Die ganze Abteilung für Mord und Totschlag lachte einhellig und laut, sogar Axel Sanders. Nur Wencke blieb ernst.
Sie wusste natürlich, dass die Kollegen über sie lachten. Doch es war kein böswilliges Auslachen, keine Schadenfreude. Es war vielmehr ein Aufatmen in der Runde, weil es Dinge gab, die sich nie änderten. Weil Wencke Tydmers, selbst wenn alle Zeichen auf Sturm standen, immer noch an ein laues Lüftchen glaubte, wenn ihre weibliche Intuition es ihr weiszumachen versuchte.
In diesem Moment war es nur umgekehrt: Alles sah danach aus, dass man den Fall zu den Akten legen konnte, und Wencke Tydmers’ Bauch witterte wahrscheinlich wieder einmal das ganz große Verbrechen.
«Wencke, die Spurensicherung hat das Seil, mit dem Aurel sich erhängt hat, in seinem Haus gefunden. Die danebenliegende Schere weist nur seine Fingerabdrücke und die von Annegret Helliger auf. Da die Moorkönigin jedoch zur Tatzeit auf Spiekeroog war und zudem das Sisalband für ihre Arbeit regelmäßig mit der Schere abschnitt, die Fingerabdrücke somit zu vernachlässigen sind, können wir davon ausgehen, dass nur Aurel das Seil von der Spule getrennt hat.» Axel Sanders hatte die letzten Sätze sehr bestimmt und ohne einen Atemzug ausgesprochen, nun musste er tief Luft holen. «Außerdem hat Sebastian Helliger inzwischen einen Abschiedsbrief des Jungen gefunden. Wir lassen ihn graphologisch untersuchen, aber es sieht nach Aurel Pasats Handschrift aus. Sie schreiben in Rumänien meistens in Großbuchstaben.»
«Wo hat Helliger den Brief gefunden?», fragte Wencke.
«In der Post. Durch die Aufregung war Helliger noch nicht dazu gekommen, den Briefkasten zu leeren. Als er es schließlich so gegen siebzehn Uhr tat, fand er das Schreiben. Ohne Briefmarke, der Junge hat seine letzte Botschaft einfach so in die Postbox neben der Haustür gesteckt.»
«Und was stand drin?»
Meint Britzke kramte wie immer in seinem vorbildlichen Aktenordner, zog eine Kopie hervor und begann unbetont und schnell zu
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