Das Sonnentau-Kind
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«Liebe Annegret, lieber Sebastian! Ihr habt mir hier ein wundervolles Jahr bereitet, noch nie habe ich mich irgendwo so zu Hause gefühlt wie in eurer Familie. Und nun soll die Zeit zu Ende sein? Ich habe euch nie von meinem Leben in Rumänien berichtet, ihr wisst nicht viel über die Straßenkinder, zu denen ich auch einmal gehört habe. Sie haben immer Hunger, ihnen ist immer kalt, sie prostituieren sich, um sich etwas zu essen oder – meistens viel dringender – etwas zum Schnüffeln zu besorgen.
Hier war alles so bunt, dort wird es wieder grau sein. Ich möchte nicht zurück, aber ich weiß, dass es keine Möglichkeit gibt, länger in Deutschland und bei euch zu bleiben. Deswegen gehe ich nun den anderen Weg, der sich mir noch bietet. Bitte sagt den Kindern, dass ich sie liebe und dass sie wie Bruder und Schwester für mich waren. Es tut mir leid, wenn ich euch nun Probleme mache. Das habt ihr nicht verdient, nach all dem, was ihr für mich getan habt. Ich danke euch und bitte um Verzeihung. Aurel.»
Zugegeben, Meint Britzke hatte sich nicht viel Mühe gegeben, den Brief, der immerhin die letzte Botschaft eines jungen Menschen gewesen war, besonders ehrfürchtig vorzutragen. Doch als Kriminalbeamter musste man solche Dinge nun mal sachlich und emotionslos betrachten, sonst ging man vor die Hunde. Und dieser Brief war ein eindeutiger Beweis, der sich perfekt in die kurze Indizienkette im Fall Aurel Pasat einreihte.
«Ich glaube es trotzdem nicht», sagte Wencke in Axels Richtung. «Er hat nichts von Selbstmordabsichten geschrieben. Jedenfalls nicht wortwörtlich.»
«In der Scheune gab es keinerlei Anzeichen, dass noch weitere Personen zugegen waren.»
«Aber …»
«Du weißt selbst, liebe Wencke, dass es für die Spurensuche eindeutige Merkmale gibt, die einen vorgetäuschten Selbstmord von einem tatsächlichen Suizid unterscheiden. Die Position des Knotens zum Beispiel, die Lage des umgestoßenen Stuhls, die Male am Hals und im Genick. Und ob es Schleifspuren auf dem Boden gibt.»
«Aber Aurel Pasat war nicht lebensmüde …»
«Er hat seine Brille vorher abgenommen und in die Brusttasche seines Hemdes gesteckt. Bei einem Mord wäre für derlei Dinge wohl kaum Zeit geblieben.»
«Er freute sich auf zu Hause. Er hatte eine Freundin …» Nun mischte sich auch Meint Britzke ein und nahm den Obduktionsbericht zurück in die Obhut seines Aktenordners: «Das rechtmedizinische Institut hat mit hundertprozentiger Sicherheit ausgeschlossen, dass der Junge bereits tot in die Schlinge gelegt wurde. Und einem gesunden jungen Mann gegen seinen Willen einen Strick um den Hals legen, auf einen Schemel stellen und sterben lassen, das funktioniert einfach nicht. Dann hätten wir Kampfspuren oder so etwas gefunden. Es sieht wirklich alles danach aus …»
«… dass wir es hier mit einem Selbstmord zu tun haben», ergänzte Axel Sanders. «Der Bericht geht noch heute an die Staatsanwaltschaft.»
Jetzt war es still im Sitzungsraum. So still hätte Axel Sanders es gern auch mal während seiner Ausführungen über diszipliniertes Miteinander gehabt, doch da quatschten die Kollegen ständig kreuz und quer. Nun sagte niemand ein Wort, auch wenn einige Münder offen standen. Es war klar, was hier soeben passiert war. Und wahrscheinlich hatten auch alle damit gerechnet, dass diese Situation früher oder später einmal eintreten musste: Er hatte seiner eigentlichen Vorgesetzten, die nur während des Erziehungsurlaubes seine Untergebene war, unmissverständlich klargemacht, dass er hier das Ruder in der Hand hielt und die Richtung vorgab. Als pikantes i-Tüpfelchen durfte man natürlich auch das private Verhältnis zwischen ihm und Wencke nicht außer Acht lassen: Sie lebten zusammen, sie waren fast so etwas wie Freunde, sie mochten sich auf eine seltsam unausgesprochene Art.
Und nun legte er einen Fall zu den Akten, der nach ihrer Ansicht ungeklärt schien.
Das war quasi ein Affront. Kein Wunder, dass die Kollegen noch immer schwiegen.
Wencke erhob sich demonstrativ. «Aurel Pasat hat gesagt, er müsse etwas hier in Deutschland klären, und wenn er zurückkomme, sei alles in Ordnung. Und so etwas sagt kein Mensch, der eigentlich vorhat, sich einen Strick zu nehmen, weil er das Leben in seiner Heimat nicht ertragen kann.» Sie ging in Richtung Tür, schnappte sich jedoch im Vorübergehen Meint Britzkes Sammelmappe. Dieser war noch immer viel zu perplex, um sie daran zu hindern.
«Was hast du jetzt vor?»,
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