Das Sonnentau-Kind
Tag, auf den ich mich seit einem Jahr gefreut habe, vorüber ist, ohne dass ich dich in den Arm nehmen konnte.
Aber andererseits freue ich mich wie verrückt: Du hast Ladislaus gefunden. Den kleinen Ladislaus. Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass er noch am Leben ist. Und wer weiß, der Brief ist ja schon ein paar Wochen alt, vielleicht hast du inzwischen auch die anderen ausfindig machen können. Ich wage kaum, darüber nachzudenken. Ich dachte immer, Deutschland sei riesig groß, sei wie ein Meer ohne Inseln, und die Menschen seien wie Tropfen darin. Wer würde je einen Einzelnen wiederfinden? Aber dir ist es gelungen, Aurel.
Den anderen habe ich nichts davon erzählt. Die wenigsten kennen Ladislaus. Und auch dich kennen nicht alle. Denn in den vergangenen Wochen sind nicht nur einige von uns gegangen – László, György, Veronica –, wir haben auch Neue in der Truppe. Alexandru kommt aus einem Dorf in der Nähe von Oradea. Die Polizei hat ihn erwischt, als er nach Ungarn flüchten wollte. Sie haben ihn schlecht behandelt, und er konnte abhauen, seit drei Monaten ist er bei uns. Er ist neun Jahre alt, sagt er, aber ich glaube, er mogelt sich ein bisschen älter. Er ist noch so klein, ich schätze, er ist in Wirklichkeit höchstens sechs. Leider haben die Großen ihm direkt Aurolac unter die Nase gehalten. Vorher war er sauber. Jetzt kriege ich ihn kaum von der Tüte weg. Er sagt, er sei noch nie so glücklich gewesen wie bei uns. Nachts darf er neben mir schlafen. Er stiehlt nicht, zumindest noch nicht, deswegen dulde ich ihn in meiner Nähe.
Dann ist vor ein paar Wochen noch die kleine Gabrielà zu uns gekommen. Sie hatte schöne schwarze Locken bis zur Hüfte. Ich habe ihr die Haare gleich abgeschnitten, da wollte sie uns erst wieder verlassen. Sie hat geheult, als hätte ich sie ernsthaft verletzt, aber als ich ihr dann erzählte, was sie hier in der Stadt mit hübschen Mädchen anstellen, da hat sie mich verstanden. Ich habe ihr gesagt, wenn sie so alt ist wie ich, ist sie auch stark genug, um wieder wie ein Mädchen aussehen zu dürfen. Bis dahin wäre es besser, aus ihr einen kleinen Gabriel zu machen. Und selbst das ist gefährlich genug. Wir haben die Haare an den Perückenmacher in der Strada Eminescu verkaufen können. Ich habe von dem Geld für alle Pizza geholt. Das war ein Fest. Und Gabrielà war die Hauptperson des Tages, saß da mit ihrer Jungenfrisur und strahlte über das ganze Gesicht, weil sie mit ihren Locken das Essen spendiert hat. Ich weiß nicht, warum sie hier ist und nicht bei ihrer Familie. Sie hat nie etwas von ihnen erzählt. Ich glaube, die Eltern sind tot. Wer lässt sonst eine so hübsche und goldherzige Tochter fortgehen?
Gerade überlege ich, wie lange es wohl noch dauert, bis du kommst, ob ich mich noch ein paar Tage oder eher Wochen gedulden muss, da läuft ein Typ die Straße entlang und wird vor der Theatertür eindeutig langsamer.
Ich lebe seit sechs Jahren auf der Straße. Seit zwei Jahren leite ich diese Gruppe. Ich habe so etwas wie ein besonderes Gespür, wenn etwas nicht ist wie sonst. Ich fühle die leichtesten Schwingungen auf dem Boden, ich nehme fremde Gerüche wahr. Und so weiß ich schon, dass einer kommt, bevor ich aus dem kaputten Fenster schaue und meine Augen die Umrisse eines Riesen im dämmrigen Mondlicht ausmachen. Innerhalb einer Sekunde bin ich in der Senkrechten, zische eine Warnung zu Victor und Iancu hinüber, die auch sofort zur Stelle sind. Wir haben einen unausgesprochenen Plan, dem wir folgen, wenn uns jemand angreift. Es funktioniert immer, fast wie von selbst, ohne Denken. Wir handeln, bevor wir uns darüber bewusst sind. Das macht mutiger. Oft schlagen wir nachts zu dritt einen Angreifer nieder, ohne dass die Kleinen wach werden. Die wundern sich dann, wenn morgens Blut auf dem Steinboden liegt.
Der Fremde steigt über die Steine, die auf den kaputten Stufen liegen. Er geht zögernd die Treppe hinauf auf die Holztür zu.
Victor klettert in geduckter Stellung aus einem der Seitenfenster, ich weiß, er schleicht sich links um die Mauer herum in Richtung Straße. Er wird den Typen gleich von hinten erwischen. Ich positioniere mich neben der Tür, Iancu steht flach an der Wand. «Scheiße», sagt er. Iancu sagt selten ein anderes Wort, nur an der Art, wie er es zwischen seinen Zahnlücken hervorpresst, erkenne ich, aus welchem Grund er es ausspricht. Jetzt ist es ein «Scheiße», das seine Angst verrät.
Wir alle haben Angst.
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