Das Sonnentau-Kind
fragte Axel Sanders.
«Ich habe jetzt Feierabend. Und was ich in meiner Freizeit anfange, kann euch allen doch egal sein.» Dann ging sie hinaus.
Wenckes Büro chaotisch neben akkurat
War es Wut oder Verzweiflung? Egal, es war zumindest irgendetwas, was in Wenckes Bauch tobte und ihr gar keine andere Möglichkeit ließ, als sich nun hier in ihrem Büro an die Arbeit zu machen, obwohl Axel Sanders und anscheinend auch die anderen Kollegen es für unsinnig und vielleicht sogar verkehrt hielten.
Sie schaute auf ihren Schreibtisch. Seitdem sie ihren Dienst wiederaufgenommen hatte, waren erst wenige Tage vergangen. Trotzdem war von der grauen Arbeitsplatte nicht mehr viel auszumachen, da sich Unmengen von Notizzetteln, Nachschlagebüchern und Dienstmitteilungen darauf breitmachten. Sie könnte jetzt den Papierkram sortieren und dabei vielleicht auch in ihrem Kopf Ordnung schaffen. Doch als sie das erste Blatt – ein Schreiben der Staatsanwaltschaft, welches sich mit einem uralten Vermisstenfall in Berum beschäftigte – in die Hand nahm, fiel ihr Blick auf Meint Britzkes Arbeitsplatz.
Dort klebte neben akkuraten Stapeln und gespitzten Bleistiften nur ein einzelnes hellgelbes Post-it: «Morgen anrufen!» Darunter die Telefonnummer, die auf Aurel Pasats Kofferanhänger gestanden hatte.
Wencke seufzte nur leise über die Erkenntnis, dass ein piccobello aufgeräumter Schreibtisch etwas für sich hatte, wenn man nicht so recht wusste, was als Nächstes auf dem Plan stand. Sie zupfte den Notizzettel von seinem einsamen Platz und suchte ihr Telefon unter einem Berg Protokollnotizen. Es dauerte einen Moment, bis sie die ellenlange Nummer eingetippt hatte. Noch länger dauerte es, bis ein Freizeichen erklang. Doch dann wurde beinahe sofort abgenommen, und am anderen Ende der Leitung, irgendwo im unbekannten Rumänien, meldete sich eine tiefe Männerstimme, die zum Glück akzentfreies Deutsch sprach.
«Prim ặvarặ. Roland Peters.»
«Hier ist die Kriminalpolizei Aurich in Deutschland. Mein Name ist Wencke Tydmers.»
«Haben Sie es schon einmal versucht? Ich hörte es vorhin klingeln, war aber nicht schnell genug.»
«Ja, das waren wir.»
«Was kann ich für Sie tun?»
«Kennen Sie einen Aurel Pasat? Er hält sich derzeit als Au-pair-Junge in Deutschland auf.»
«Natürlich kenne ich Aurel. Was ist passiert?»
Wencke erzählte das Nötigste. Sie verkniff sich sämtliche Anmerkungen pro oder contra Selbstmord, schilderte nur die Fakten, und schließlich fragte sie den sehr betroffenen Roland Peters, ob es in Arad irgendjemanden gebe, der nähere Auskünfte über Aurel Pasat geben könne, die für die Aufklärung des Falles wichtig sein könnten.
Der Mann in Rumänien zögerte nicht lange. «Teresa wird etwas wissen. Sie hat erst heute einen Brief von ihm geöffnet.»
«War sie seine Freundin?»
«Mag sein. In Rumänien läuft das alles ein bisschen anders, müssen Sie wissen.»
«Er hat gegenüber einer Bekannten hier in Deutschland auch den Namen Teresa erwähnt.»
«Aurel hat in Arad als Streetworker gearbeitet. Er war ein erstaunlicher junger Mann. Obwohl er selbst aus den schlimmsten Verhältnissen stammte, hat er es geschafft, einen Schulabschluss zu machen. Und dann hat er gleich damit begonnen, sich um die Straßenkinder zu kümmern. Teresa ist eines von ihnen.»
«Also ist sie noch ein Kind?»
«Hier werden die Menschen früher erwachsen als in Deutschland. Soweit ich weiß, ist Teresa fünfzehn. Sie ist Leitwölfin einer recht wilden Horde, die wir im Prim ặvarặ immer wieder zu zähmen versuchen. Mit Aurels Hilfe ist es uns auch ab und zu gelungen. Wissen Sie, wenn man den Anführer einer Kindergruppe überzeugen kann, dann hat man auch Zugang zu den anderen. Deswegen hatte Aurel stets versucht, einen besonderen Draht zu Teresa zu haben. Leider hat sein Weggang nach Deutschland die Situation verschlechtert.»
«Aber Sie sagten, Teresa habe heute einen Brief von ihm bekommen. Dann müssten Sie ja wissen, wo das Mädchen steckt.»
«Ich habe Teresa am Bahnhof getroffen. Sie war kurz mit mir hier in der Schule, hat das Schreiben gelesen und ist dann wieder gegangen.»
«Haben Sie eine Ahnung, was in dem Brief stand?»
«Sie sagte, Aurel würde ein paar Tage später als geplant anreisen. Mehr nicht.»
«Mehr schreibt er nicht an seine beste Freundin in der Heimat?»
«Nein, ich denke eher, mehr hat Teresa mir nicht erzählt. Die rumänischen Straßenkinder sind verschlossen wie
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