Das Sonnentau-Kind
Hochsicherheitstrakte. Von denen erfährt man nicht so schnell etwas. Zu viele schlechte Erfahrungen, nehme ich an.»
«Aber Aurel Pasat hat sie vertraut.»
«Ja, er war ja irgendwie einer von ihnen.»
Nun schwieg Wencke einen Moment in den Telefonhörer. Es war klar, dieses Land, aus dem der Tote stammte, hatte nicht viel mit dem Leben auf dem Heiliger-Hof zu tun. Aber was dieser freundliche Sozialarbeiter erzählte, ließ sie einmal mehr zweifeln, dass Aurel Pasat sich deswegen umgebracht haben könnte. Egal, mit wem sie sprach, um sich ein Bild von dem Jungen zu machen, immer weniger konnte sie diese Selbstmordtheorie nachvollziehen, an die Axel Sanders, die Spurensicherung und die Rechtsmedizin so fest glaubten.
«Soll ich sie suchen?», fragte der Mann. «Ich könnte ihr sagen, dass Sie Informationen brauchen. Mit einigem Glück gelingt es mir vielleicht, etwas über den Inhalt des Briefes in Erfahrung zu bringen.»
«Wir könnten uns verabreden. Ich rufe Sie morgen Vormittag um zehn Uhr an, vielleicht ist Teresa dann zugegen und Sie dolmetschen für uns.»
«Das würde ich gern tun. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Ich weiß noch nicht einmal genau, wo Teresas Gruppe momentan ihr Nachtquartier hat. Und ob sie dann mit mir kommt … Ich bin da weniger optimistisch.»
«Aber Sie versuchen es?»
«Das werde ich tun. Doch die Kinder sind unberechenbar, verstehen Sie?»
Nein, eigentlich verstand Wencke es nicht. Es war ihr so fremd, was der Mann erzählte. Doch sie merkte, er tat wahrscheinlich sein Bestes. Und da sie ja momentan ohne ausdrücklichen Dienstauftrag handelte, konnte sie sich mit dem Ergebnis dieses Telefonats mehr als glücklich schätzen. Wahrscheinlich würde sie morgen um kurz nach zehn dann mehr wissen, mehr in der Hand haben, um Axel Sanders davon zu überzeugen, dass sich Aurel Pasat nicht das Leben genommen hatte.
«Ich danke Ihnen, Herr … Entschuldigen Sie, wie war Ihr Name?»
«Peters, Roland Peters.»
Teatrul vechi, Arad verfallen, in der Dämmerung
Sie fragen mich alle, wo du bist. Als ich vom Bahnhof kam, sind sie mir entgegengerannt. Sie haben wohl gedacht, du wärst zuerst ins Prim ặvarặ gegangen und kämst später nach. Damit, dass du überhaupt nicht kommen würdest, hat keiner gerechnet. Ich kann den Kindern auch zehnmal sagen: «Morgen ist er da oder übermorgen …» Die kapieren es nicht. Sie haben sich so auf dich gefreut. Nun sitzen sie enttäuscht auf dem Steinboden des zerfallenden Theaters und dämmern in den Abend hinein. Die meisten mit einer Tüte vor dem Mund.
Die Nächte sind doch noch ganz schön kalt hier in Arad. Und die Sonne, die gerade eben untergeht, hat es nicht geschafft, im Laufe des Tages die grauen Steine des halb verrotteten Hauses genügend aufzuheizen, sodass sie uns im Inneren beim Schlafen etwas Wärme hätten geben können. Es ist still geworden. Ich hoffe, wir können noch ein bisschen an diesem Ort bleiben, ich hoffe, uns vertreibt niemand so schnell. Irgendwo habe ich aufgeschnappt, dass der neue Bürgermeister das alte Theater renovieren lassen will. Dann wären die Tage hier gezählt. Man findet in Arad nur selten einen Platz, an dem man nachts schlafen kann, ohne getreten oder verscheucht zu werden. Die vielen Nischen im kaputten Gemäuer eignen sich zum Versteckspiel am Tag, und in der Nacht kann man sich einbilden, dass jeder in seiner Ecke so etwas wie ein eigenes Bett hat. Glaub mir, es geht uns gut im Teatrul vechi in der Strada Gheorge Lazar.
Ich liege im vorderen Teil des Gebäudes direkt an der Hauswand, die zur Straße zeigt, auf einer Art Fensterbank. Über meinem Lager sind zwei große Fenster, beim einen sind die Scheiben blind, beim anderen zersplittert. Wir haben das Loch mit Holzleisten geschlossen, sie lassen sich zur Seite schieben, wenn man hinausschauen will. Wenn ich einschlafe, nehme ich mir immer vor, von der Vergangenheit dieses Ortes zu träumen. Du hast gesagt, hier seien große Schauspieler aus Rumänien, Ungarn und Deutschland zu sehen gewesen, und vor einhundert Jahren habe hier eines der ersten Kinos des Landes seine Türen geöffnet. Es war sicher alles ganz chic und edel. Ich träume mich in die Vergangenheit hinein. Phantasie ist schon gefragt, denn viel ist von ihrem Glanz wirklich nicht übrig geblieben.
Doch heute fällt mir das Einschlafen schwer. Ich bin in diesem Moment ein bisschen traurig, weil bald, in zwei Stunden, die Leuchtziffern der Bahnhofsuhr auf 00:00 umspringen und der
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