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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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versiegt, sie schien tief versunken. Ob sie sich über Wenckes Worte den Kopf zerbrach oder ihren eigenen Gedanken nachhing, war nicht auszumachen. «Zwischen den Briefen lagen ein paar Tage, an denen ich mit den Kindern zur Insel gereist bin. Wer weiß, vielleicht ist in der Zwischenzeit irgendetwas geschehen, was seine Gefühle verändert hat.» Sie legte den Brief zusammen und wollte ihn wieder verstauen.
    «Entschuldigen Sie, Frau Helliger, aber ich werde dieses Schreiben als Beweisstück mitnehmen müssen.»
    «Wie bitte?», fragte sie ungläubig, nein, es war Entrüstung. «Es ist mein Brief! Es ist meine letzte Erinnerung an Aurel. Nie im Leben darf dieses Stück in irgendeiner Polizeiakte verstauben.»
    «Ich fürchte, wir werden nicht anders können. Es ist wichtig, besonders in Hinblick auf die Echtheit und Plausibilität des Abschiedsbriefes. Wir haben Experten, die so etwas beurteilen können. Und ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen auch wichtig ist, herauszufinden, was mit Aurel Pasat geschehen ist. Warum ein junger Mensch so wunderschöne Briefe schreibt und dann Tage später tot in einer Scheune hängt.»
    Annegret Helliger schaute gequält, und Wencke wurde bewusst, dass sie sich nur wenig sensibel ausgedrückt hatte. Aber es musste ihr gelingen, der Frau den Brief abzunehmen. Nach einer polizeilichen Verfügung würde Annegret Helliger es ohnehin nicht verhindern können, doch wesentlich besser wäre es, Wencke Tydmers hätte das Schreiben in der Hand, wenn sie gleich nach Aurich fuhr. Es würde sich gut machen auf Axel Sanders blitzblankem Schreibtisch, am besten direkt neben diesem voreiligen Wisch, der Aurels Tod als Selbstmord klassifizierte.
    «Helfen Sie mir, die Wahrheit herauszufinden. Sie glauben doch auch nicht daran, dass er seinem Dasein selbst ein Ende gemacht hat, oder?»
    «Er wollte leben.»
    «Sehen Sie?» Wencke streckte langsam und Stück für Stück die Hand heraus. Nicht zu fordernd, eher bittend.
    Annegret Helliger reichte ihr den Zettel mit gesenktem Blick.

Jakob Mangolds Zimmer
es könnte mal gelüftet werden
    Jakob Mangold hatte bis heute Nachmittag frei. Er wälzte sich in seinen Kissen, es müffelte, neue Bettwäsche wäre auch mal ganz angebracht. Wenn seine Mutter das sehen könnte, sie würde sofort Hand anlegen, wahrscheinlich bei der Gelegenheit gleich mal Staub wischen, eben noch die Fenster putzen, wie sieht das Waschbecken denn aus. Seine Mutter hatte ihn noch nie hier besucht. Besser, es bliebe dabei.
    Es war toll, allein zu leben. Schon seit Jahren freute Jakob sich auf seine eigene Bude, seinen eigenen Tagesablauf, seine eigenen Prioritäten. Dann waren auch die Wochenenden in Osnabrück besser zu ertragen. Seine Mutter meinte zwar immer, sie müsse irgendetwas nachholen, weil er so lange weg gewesen war: Sie überschüttete ihn mit Streicheleinheiten und bekochte ihn rund um die Uhr – aber so bekam er wenigstens alle vierzehn Tage richtig satt Vitamine in den Bauch. Und der Wäschesack, der am Freitagabend schmutzig und am Sonntagnachmittag sauber gefüllt war, hatte auch etwas für sich.
    Wieder drehte Jakob sich im Bett um seine eigene Achse. Es war schon Mittag. Er schaute gegen die Wand, auf die einer seiner Vorgänger, der das Ökologische Jahr absolviert hatte, einen Regenbogen gemalt hatte. Er dachte an gestern Abend.
    Es waren einige Leute auf dem Heiliger-Hof gewesen, um Aurel zu verabschieden. Mit einem Mädchen – es kam aus irgendeinem osteuropäischen Land, war ganz nett und unter der Schminke vielleicht auch hübsch – hatte er sogar ein paar Worte gewechselt. Natürlich waren sie alle sehr aufgeregt, weil Aurel tot war, man sprach von Selbstmord, man mutmaßte und spekulierte über die Gründe, einige heulten.
    Jakob hatte sich relativ unbeteiligt gegeben. Schließlich war er nicht wirklich ein Freund von Aurel Pasat, eher eine Zufallsbekanntschaft. Und dessen Tod war zwar tragisch, aber er berührte ihn nicht wirklich. Vielleicht hätte er sich – in einer anderen Situation – mehr Gedanken gemacht. Aber gestern Abend war er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.
    Es war schon komisch, dort neben dem Haus zu stehen, in dem sein Vater nun seine Tage verbrachte, und doch auch jetzt so weit von ihm entfernt zu sein. Aber Jakob hatte nichts weiter unternommen. Er hätte auch hineingehen können, hätte ihn bestimmt irgendwo gefunden, zur Rede gestellt. Was hätte er gesagt?
    Jakob murmelte vor sich hin. Es war eine Angewohnheit.

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