Das Sonnentau-Kind
Er legte die Worte zurecht, übte sie leise für sich, sprach sie tausendmal aus, ohne dass es jemand hörte. Und die Sätze, die er seinem Vater an den Kopf schmeißen würde, hatte er sich in den letzten Tagen mehr als nur einmal selbst erzählt:
«Ich erinnere mich genau an den Tag, als Mama sagte, du seiest krank. Ich bin aus dem Kindergarten nach Hause gekommen, und du warst nicht da. Kein Teller stand an deinem Platz, Mama hatte nur für zwei gedeckt. Es gab Spaghetti bolognese und Salat. Und seitdem haben wir immer allein gegessen, nie wieder nahmst du auf dem Stuhl am Kopfende des Tisches Platz. Mama erzählte, du bist im Krankenhaus, weil etwas in deinem Körper falsch sei und du ganz viele Tabletten nehmen müsstest und irgendwann mal operiert wirst. Die Operation sei sehr gefährlich, daran könne man sterben, hat sie gesagt. Ich war fünf Jahre alt. Sie hat es mir eben so erklärt, wie man es einem kleinen Jungen erklärt. Keine medizinischen Fachbegriffe und so, die hätte ich eh nicht verstanden. Ich habe nicht oft nach dir gefragt, weil sie dann immer geweint hat. Einmal wollten wir in die Klinik, aber dann ist Mama krank geworden. Zu meiner Einschulung hast du mir einen langen Brief geschrieben, in dem du sagtest, dass du an mich denkst und mich vermisst und wir uns irgendwann einmal wiedersehen. Aber als ich sieben war, erzählte Mama, die gefährliche Operation hätte stattgefunden und ich solle nicht traurig sein, aber mein Vater sei nicht mehr da. Ich war auch nicht traurig, schließlich hatte ich dich damals schon seit mehr als zwei Jahren nicht zu Gesicht bekommen. Ich konnte mich kaum noch an dich erinnern – deine Stimme, deine Bewegungen, das war alles weg. Das Einzige, was mir von dir blieb, war die Skizze mit dem Wurzelkobold, die ich stets in meinem Portemonnaie trug. Zu deinem Grab sind wir nie gefahren; Mama sagte, du hättest dich der medizinischen Forschung zur Verfügung gestellt und es gäbe keine Gedenkstätte, wo ich auf einem Stein Andreas Isselmeer hätte lesen können. Also warst du weg, einfach nicht mehr da. Seit dem Tag, als es Spaghetti bolognese und Salat für zwei Personen gab, bist du aus meinem Leben verschwunden. Bis vor zehn Wochen, als ich diesen fremden Jungen mit dem Mountainbike im Moor traf …»
«Jakob? Hast du Besuch?» Es klopfte an der Tür. Der Stimme nach stand seine Kollegin und Mitbewohnerin Anette draußen.
«Komm rein …», knurrte Jakob.
Ein Kopf mit wilden Locken schob sich durch den Türspalt. «Komisch, ich dachte, ich hätte dich mit jemandem reden hören.»
«Radio», sagte Jakob.
«Bist du dir sicher, dass du keine Frau unter deiner Decke versteckst?»
«Ziemlich sicher.»
«Dann ist gut, du hast nämlich Damenbesuch.»
Jakob richtete sich augenblicklich auf. Sofort dachte er an seine Mutter. Es wäre typisch für sie, wenn sie einfach so unangemeldet in der Tür stehen würde, wahrscheinlich mit der Behauptung, sie sei eben in der Gegend gewesen und wolle einfach mal auf einen Sprung vorbeischauen. Sein Blick überflog das chaotische Zimmer. Sie würde gleich in Ohnmacht fallen, so viel stand fest.
«Scheiße, ich muss aufräumen …», raunte er Anette zu. «Kannst du sie ein bisschen aufhalten?»
«Das wird schwierig sein. Das Kind nimmt nämlich gerade das Interieur unserer Gemeinschaftsküche auseinander, und mir wäre es lieber, das Balg setzt seine destruktive Phase in deinen eigenen vier Wänden fort.»
«Ein Kind?», fragte Jakob. Dann sah er das große Mädchen hinter Anette stehen, die langen schwarzen Haare, die getuschten Wimpern. Sie war nicht ganz so aufgestylt wie gestern Abend, aber immer noch viel zu affig für seinen Geschmack. Was wollte diese – wie hieß sie doch gleich? – heute hier in seinem Zimmer? Noch dazu mit einem sabbernden Baby auf der Hüfte.
«Hi», flötete sie. «Wir beide wollten mal vorbeikommen und uns was über das Moor erzählen lassen.»
Anette verzog ironisch das Gesicht und grinste beim Hinausgehen. «Ich will die Kleinfamilie dann nicht länger stören.» Sie zog die Tür hinter sich zu, sodass Jakob sich im nächsten Augenblick allein mit diesem Au-pair-Mädchen und ihrem Pflegekind im Zimmer befand. Ärgerlicherweise spürte er, dass er knallrot wurde.
Sie ließ das Kind herunter, setzte sich mit einer Pobacke auf die freie Ecke seines Computertisches und verschränkte die Arme. «Du hast doch gesagt, du hättest heute den halben Tag frei. Und da habe ich mir gedacht …»
«Woher
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