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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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AUSSTEIGEN MOORDORF
    Die Fahrkarte hat viel Geld gekostet, mehr hatte ich dann auch nicht in der geklauten Brieftasche. Aber ich war froh. Ich habe es geschafft. Ich kann nicht wirklich gut lesen und schreiben, ich kann kein Wort Deutsch, ich habe keine Ahnung, wohin ich eigentlich genau will, aber ich habe es geschafft und stehe jetzt hier an einer unbekannten Kreuzung ganz in deiner Nähe. Aurel!
    Es ist ein Dorf. Sauber und reich zwar, im Vergleich zu Arad ist wahrscheinlich alles sauber und reich, aber es ist winzig. Die Menschen, die mir bislang begegnet sind, starren mich an, weil sie natürlich merken, dass ich nicht hierhin gehöre. Aber sie sind freundlich. Ich habe so viel Glück gehabt auf meiner Reise. Onkel Casimir, Wasserfall, der Busfahrer, die Fahrkartenverkäuferin. Niemand hat mich geschlagen, niemand hat mich beschimpft.
    Eine junge Frau mit roten kurzen Haaren fährt auf dem Fahrrad an mir vorbei und schaut in die andere Richtung. Ich denke an die alte Dame in Arad auf dem Bahnhof, die mich vorgestern so schlecht behandelt hat, die mich mit dem Stock bedroht hat, als ich da einfach nur stand und auf dich gewartet habe. Hier ist es anders.
    Was hast du wohl das erste Mal gedacht, als du an dieser Straße standest? Du hattest es leichter, denn du wurdest erwartet, kanntest die Sprache. Und du hattest nicht kurz vorher einen Menschen umgebracht und Angst davor, doch noch erwischt zu werden. Ich denke, du hast dich gefreut, als du hier angekommen bist. Manchmal habe ich Angst, dass du mich zu diesem Zeitpunkt schon vergessen hattest. Aber dein Brief erzählt etwas anderes. Du bist mir treu geblieben. Du hast nicht den Grund vergessen, aus dem du hierher gekommen bist. Aber alles andere hätte auch nicht zu dir gepasst.
    Aber was ist durch Ladislaus’ verwirrten Kopf geirrt, als er das erste Mal Deutschland gesehen hat?
    Mein Bruder, ob er Angst hatte, als sie ihn hierhin gebracht haben? Ich bin mir gar nicht sicher, ob Ladislaus überhaupt so etwas wie Angst kennt. Er kann nicht sprechen, und ich hatte nur selten den Eindruck, dass er mich wahrnimmt, wenn ich ihn zu Hause besucht habe. Die Einzige, die er kannte, war meine Mutter. Mit ihr hat er gelacht, nach ihr hat er gerufen. «A-ka» hat er sie genannt. Ich habe ihn von allen meinen Geschwistern immer am liebsten gehabt. Obwohl er keine Beziehung zu mir aufbauen wollte. Aber er war so hilflos mit seinen verkrüppelten Beinen und Armen, die wie Unkraut aus seinem dünnen Körper wuchsen. Viele haben gesagt: Der Junge ist ein Fluch für die Familie. Aber ich bin mir sicher, er ist der größte Segen. Schließlich ist er mein Zwillingsbruder. Wir waren zusammen im Bauch meiner Mutter. Und weil ich bei der Geburt so lange gebraucht habe, ist er so krank geworden. Ich habe mich nicht genug beeilt, auf die Welt zu kommen, und deswegen ist Ladislaus im Mutterleib fast erstickt.
    Wir haben uns immer ein Zimmer geteilt, als ich noch zu Hause lebte. Wir haben den ganzen Tag miteinander verbracht. Als die kleinen Geschwister kamen und Mutter nur noch wenig Zeit hatte, habe ich mich allein um Ladislaus gekümmert. Das hat mir nicht immer Spaß gemacht. Oft war ich sauer, denn ich wollte doch auch spielen wie die anderen Kinder. Doch ich musste ihm die Hosen wechseln, wenn die Windeln voll waren, und das war schwer, denn seine Beine waren verkrampft und steif, ich musste den Stoff mit Gewalt über die Knie ziehen. Aber das Leben an seiner Seite machte irgendwie Sinn. Dafür bin ich ihm dankbar.
    Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich nach langer Zeit mal wieder nach Hause kam, weil ich eine ganze Menge Geld hatte. Woher die Kohle stammte, ist ja eigentlich egal; ich bin mir sicher, derjenige, der sie vermisste, brauchte sie nicht so dringend wie mein Bruder. Meine Mutter nahm mir das Geld aus der Hand und schickte mich mit bösen Worten davon. Ich habe nach Ladislaus gefragt, aber sie hat den Kopf geschüttelt. Ich habe nicht lockergelassen und bin in unser altes Zimmer gegangen. Dort lag ein nackter Mann, den ich nicht kannte. Ich schaute mich um und konnte nichts erkennen, was mich an Ladislaus erinnerte. Es war, als habe mein Zwilling nie dort gelebt, dabei hatte er bis vor wenigen Wochen den Großteil seines Lebens in dieser dunklen Butze verbracht. Ich dachte, er ist bestimmt tot, irgendwie gestorben, schließlich war er ja krank. Aber es war sonderbar, dass meine Mutter nichts erzählte. Stattdessen warf sie mich raus, schickte noch einen Tritt

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