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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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Mann getötet hatte, das außer Gewalt anscheinend noch nicht viel kennengelernt hatte – was wollte dieses Mädchen in Moordorf? Wenn sie es überhaupt bis nach Deutschland schaffte.
    Wencke wollte aufstehen, an Axels Tür klopfen, ihm davon berichten, mit ihm die Zusammenhänge entknoten und interpretieren. Doch sie hörte aus seinem Zimmer laute Klassikmusik, etwas Dramatisches mit Blechbläsern und Pauken. Und so weit kannte sie ihn, dass er diese Musik nur hörte, wenn er ansonsten gar nichts mehr an sich ranlassen wollte. Außerdem hatten sie sich einmal geschworen, nichts Dienstliches in ihre vier Wände dringen zu lassen. Also blieb sie sitzen.
    Wencke begegnete Anivias Blick. Sie schien einiges mitbekommen zu haben, doch die weit aufgerissenen Augen verrieten, dass sie vor Neugierde fast platzte.
    «Was ist passiert?», fragte sie endlich.
    «Ich glaube, du musst morgen Emil mit ins Moor nehmen. Ich überlasse dir mein Auto, dann kannst du den Babyjogger mitnehmen. Für meine Aktionen reicht vielleicht das Fahrrad.»
    «Deine Aktionen? Was hast du vor?»
    «Ich streiche meinen freien Tag. Und den Wein lasse ich auch lieber stehen heute Abend. Es gibt zu viel zu tun!»

Moordorf, an der Ampel Bundesstraße 72 sauber und geordnet
    Hier ist es aber nett. Ich kann es kaum glauben, dass ich endlich da bin. Es gibt hier eine Uhr, die so ähnlich ist wie die im Bahnhof in Arad. Als ich ankomme, zeigt sie 10:38.
    Nun stehe ich todmüde in der Fremde und gucke mich um. Eine breite Straße kreuzt eine noch breitere, viele große Autos, ein paar Geschäfte mit Klamotten, eine Kirche aus roten Steinen, hinten weiter ein Bäcker, im Schaufenster liegen Brote, wie ich sie noch nie gesehen habe. Mit Getreide obendrauf.
    Stück für Stück habe ich mich diesem Ort genähert. Erst die Landstraße von Arad zur ungarischen Grenze, dann die Raststätte bei Prag. Und auf einem Parkplatz irgendwo in der Nähe der Stadt, die Hamburg heißt, bin ich mitten in der Nacht von Wasserfalls Ladefläche gekrochen und habe mich erst einmal eine Stunde lang bewegt. Bin gelaufen, in diesen Wald hinter den Parkplätzen, ein ganzes Stück weit hinein zwischen die Bäume. Überall lag Scheiße herum und Klopapier. So habe ich mir Deutschland nicht vorgestellt. Doch ein paar Schritte weiter war es ganz sauber. Aber auch ziemlich dunkel, nur ein halber Mond und keine Laternen. Ich bin einfach gelaufen. Es tat gut, denn die Nacht auf dem schmutzigen Boden hat meine Klamotten durchgescheuert, ich glaube, meine Schultern bluten vom Auf-dem-Rücken-Liegen. Deswegen war der Marsch in die Natur echte Erholung. Ich bin ja nicht empfindlich, habe oft genug auf hartem Untergrund geschlafen, aber die Fahrt in Wasserfalls Lkw war echt zu viel.
    Du willst sicher wissen, wie ich dann von diesem Parkplatz nach Moordorf gekommen bin.
    Ehrlich gesagt, das hatte ich mir auch einfacher – oder zumindest ganz anders – gedacht. Denn ich hatte mir ja Moordorf viel größer und viel wichtiger vorgestellt. Und nachdem ich Wasserfall in seiner Pinkelpause das Portemonnaie aus dem Auto gestohlen habe, dachte ich auch noch, ich kaufe mir von dem Haufen Geld jetzt eine Busfahrkarte und später eine für den Zug, und dann stehe ich in den nächsten Stunden auf einem großen Bahnhof in Moordorf. Aber kein Mensch weiß, wo Moordorf liegt.
    Einige Kilometer hinter dem Autobahnparkplatz fand ich eine Bushaltestelle, die mitten in der öden Landschaft lag. Ich stellte mich hin und wartete. Die Sonne ging auf, die Vögel waren laut und lustig, die Wiesen um mich herum waren so grün, so etwas habe ich noch nie gesehen. Als der Busfahrer kam, habe ich «Moordorf» gesagt, und er hat mich verständnislos angesehen. Dann habe ich deinen Brief aus der Tasche gekramt und ihm den Absender gezeigt. Er hat den Kopf geschüttelt und etwas Unverständliches gesagt. Ich bin aber trotzdem mitgefahren. Schließlich wäre es auch nicht schlau gewesen, einfach dort stehen zu bleiben.
    Wir hielten in einer Stadt, die Bremen hieß. Am Bahnhof, zum Glück. Vor Bahnhöfen habe ich nicht so viel Angst wie vor grünen Landschaften. Ich habe lange gesucht, bis ich herausgefunden habe, wo man die Fahrkarten kaufen kann, und dann habe ich der Frau gleich den Umschlag gezeigt. Sie hat mir wieder etwas in Deutsch erklärt, und als sie merkte, dass ich nichts verstehe, hat sie mir einen Zettel geschrieben. Moment, ich schaue mal nach, darauf steht ganz ordentlich:
    ZUG BIS EMDEN – BUS RICHTUNG AURICH

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