Das Sonnentau-Kind
noch einmal, dann erkenne ich es: Die Frau auf dem Bild heißt Annegret Helliger. Und unter deiner Adresse steht: bei Familie Annegret Helliger.
Sie ist es! Ich brauche Ewigkeiten, bis ich die Schrift auf dem Plakat verstehe, ich glaube, dass sie in einem Museum arbeitet. Und weil ich nun schon sehr lange hier herumstehe und so ziemlich alle Schilder studiert habe, weiß ich auch, dass die etwas schmalere Straße links zum MOORMUSEUM führt. Ein braunes Schild zeigt den Weg. Ich mache mich auf. Nur noch wenige Schritte, und ich bin angekommen. Nach einer langen Reise.
Auf dem Fahrrad durch den Mai voller guter Vorsätze
Axel Sanders wusste nicht, dass Wencke heute eigenmächtig ihren freien Tag drangegeben hatte. Und wenn es nach Wencke ging, so würde er es auch erst dann erfahren, wenn sie Neuigkeiten in Sachen Aurel Pasat in petto hatte, und zwar derart handfeste, dass er ihre Einwürfe einfach nicht mehr ignorieren konnte. Anivias Beobachtungen in der Apotheke, die Vermutung, dass Aurel irgendetwas Bestimmtes im Moor zu tun gehabt hatte, nicht zuletzt der gestrige Anruf aus Rumänien, wo ein Mord stattgefunden hatte. Heute würde sie diesen Dingen auf den Grund gehen. Und sie wusste, am Ende dieses Tages würde alles anders aussehen.
Voller Tatendrang war Wencke auf das Fahrrad gestiegen, und in der angenehmen Frühlingswärme machte die Tour sogar weitaus mehr Spaß, als wenn sie sich hinter das Steuer ihres Passats geklemmt hätte. Sie hatte bereits den Adler-Apotheker besucht, aber er hatte sich recht stur auf seine Diskretion berufen. Lediglich den Namen des Kinderarztes, der Aurels Rezepte über Antibiotika unterschrieben hatte, hatte Wencke aus ihm herausgekitzelt. Doch bevor sie die Praxis in Aurich besuchte, wollte sie sich von Annegret Helliger so etwas wie eine Erlaubnis geben lassen, dass der Mediziner zumindest sagen durfte, welche Arznei er für die Heiliger-Kinder – oder allem Anschein eben doch nicht für diese – verordnet hatte. Manchmal musste man sich in Fällen, bei denen Ärzte oder Seelsorger aller Art an ihre Schweigepflicht gebunden sind, von hinten an die Wahrheit heranschleichen. Es war eine knifflige Situation, denn wenn die Medikamente gar nicht für die beiden gewesen waren und die Mutter dieses in irgendeiner Form bestätigte, dann unterlag die Information genaugenommen auch keiner ärztlichen Schweigepflicht mehr. Es war mehr als wichtig, herauszufinden, was genau Aurel Pasat sich aus der Apotheke geholt hatte und warum. War er selbst krank gewesen? Oder hatte er jemanden, der nicht versichert war, mit Antibiotika versorgt? Und warum hatte Annegret Helliger diese Informationen nicht an Wencke weitergegeben? Der Besuch in der Apotheke gestern war vor ihrem Gespräch im Atelier gewesen, doch war es Aurels Gastmutter leichter gefallen, von einer aufkeimenden Liebesgeschichte zu reden, als zuzugeben, dass ihr jugendlicher Verehrer sich allem Anschein nach hinter ihrem Rücken Medikamente besorgt hatte. Das war schon seltsam. Wencke bog mit dem Fahrrad auf den Weg, an dessen Ende zwei hohe Bäume den Eingang zum Heiliger-Hof säumten, im Kopf hatte sie sich allerhand Fragen zurechtgelegt.
Doch auf dem Heiliger-Hof traf Wencke niemanden bis auf den schmusebedürftigen Wachhund und das Dienstmädchen Mandy an, welches sich inzwischen wieder gefangen zu haben schien und fleißig seinen Job in der riesigen Hofküche erledigte. Ihre fast hysterische Heulerei um Aurel war einer schnippischen Art gewichen.
«Herr Helliger ist im Werk in Großheide und wird vor heute Abend nicht wieder im Haus sein. Und die Kinder sind in der Schule, wo sonst? Frau Helliger hat alle Hände voll zu tun, Sie wissen doch, die Ausstellung im Moormuseum. Ich denke nicht, dass irgendjemand Zeit für Sie hat. Und außerdem ist die Sache doch jetzt geklärt, oder nicht?»
«Ist es denn für Sie geklärt?»
Sie zuckte die Schultern. «Was soll man da machen? Er wollte nicht nach Hause zurück. Ich kann ihn verstehen, ich will auch nicht unbedingt mit meiner Vergangenheit tauschen und wieder ab nach Sachsen-Anhalt. Obwohl meine Freundinnen dort immer fragen, wie ich es in einem ostfriesischen Kaff aushalte. Aber die sind alle arbeitslos oder wissen jetzt schon, dass sie nach ihrer Lehre keine Anstellung finden werden. Da bin ich lieber hier.» Sie räumte, während sie sprach, das Geschirr aus der Spülmaschine, und man merkte ihr an, dass sie diese Sätze schon mehr als nur einmal gesagt hatte, trotzdem
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